Sommerserie Die Stadtpräsidenten: Sie bloggt, nutzt soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook, und sie bezog mitten im Regierungsamt fünf Monate Mutterschaftsurlaub: Sandrine Salerno verkörpert das moderne Gesicht der internationalen Stadt Genf.
genf. Weltläufig, multikulturell, offen und avantgardistisch: Genf geniesst bei Auswärtigen ein derart unschweizerisch-modernes Image, dass manchmal vergessen geht, dass die Realität noch nicht ganz Schritt hält. So war Genf zwar einer der ersten Kantone, die den Frauen das Stimmrecht einräumten, auf Regierungsbeteiligung in Staat und Gemeinden mussten die Frauen allerdings lange warten; heute noch sind sie in den Exekutiven klar untervertreten.
Da ist die einzige Frau in der Stadtregierung wohl ein Glücksfall für die Rhonestadt: Die einen applaudierten, die anderen nannten es einen Skandal, doch Sandrine Salerno setzte ihren Willen durch und bezog wie geplant ihren Mutterschaftsurlaub. Fünf Monate lang versah die SP-Politikerin ihr Vollamt als Stadträtin von daheim aus, nur für die wöchentlichen Regierungssitzungen fuhr sie weg.
Das war im August 2008, und heute ereifert sich niemand mehr über das Verhalten der Mutter von zwei Kindern, die selbstbewusst auf die Vereinbarkeit von Politik und Familienleben pochte. Seit diesem Juni präsidiert die 39-Jährige nun für ein Jahr turnusgemäss die Stadtregierung, und der Ablauf ihres Familienlebens ist längst eingespielt: Den Haushalt erledigt eine Angestellte, Ehemann und Mutter helfen mit bei der Kinderbetreuung, «und einkaufen kann man heute ja auch via Internet».
Salerno nutzt die modernen Mittel der Kommunikation für ihr Privatleben genauso selbstverständlich, wie sie als Stadtpräsidentin auf Twitter, Facebook und einen Bürger-Blog setzt. Vor allem der Bürger-Blog ist ihr ein Anliegen, um die Politik aus dem Stadtpalais hinaus unters Volk zu bringen und sich gleichzeitig ein Bild von den Bedürfnissen der Einwohner zu machen, wie sie sagt.
Natürlich machen die Genfer auf dem Blog ihrem Ruf der ewigen Meckerer alle Ehre und schimpfen über die unzähligen Baustellen in der Stadt. Ändern kann die Stadtpräsidentin daran wenig, aber Verständnis zu zeigen, bringe schon viel, stellt sie fest. «Ich weiss, mit dem gleichzeitigen Ausbau der Tramlinien und der Verlegung des Glasfasernetzes ist es im Moment nicht einfach.»
Brücken bauen, Nähe schaffen: Diesen Ansatz verfolgt Salerno auch im Verhältnis zwischen der lokalen Bevölkerung und den 40 000 Angestellten des internationalen Genf. Denn was Touristen und Geschäftsleute aus aller Welt an Genf fasziniert, wird der Stadtbevölkerung manchmal schlicht zu viel. Jüngstes Beispiel ist der Streit um den Ausbau des WTO-Gebäudes.
Salerno verteidigte ihn in der Öffentlichkeit mit Erfolg, das Referendum der Kritiker fiel durch, und inzwischen haben auch die internationalen Organisationen ihr Interesse an der Bevölkerung entdeckt. Nach der WTO öffneten kürzlich auch die Wipo und die UNO ihre Türen für das Publikum. Begeistert spricht Salerno von den Vorteilen des «multikulturellen Reichtums», wenn sie Auswärtigen ihre Stadt erklärt.
«Genf ist mit seinen 180 000 Einwohnern eine kleine Stadt, aber sie verfügt über sämtliche Einrichtungen einer Grossstadt», sagt sie.
46 Prozent beträgt der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung, wer auf der Strasse auf Englisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch um eine Auskunft bittet, erhält in allen möglichen Idiomen Antwort. Bei der Sprache Goethes aber kommen die meisten Genfer ins Schleudern und der Stadtpräsidentin geht es dabei gleich. Deutsch, Schweizerdeutsch gar? Sandrine Salerno schüttelt entschuldigend den Kopf.
Sie ist zwar in Genf geboren und seit ihrem 16. Lebensjahr eingebürgert, als Kind einer Französin und eines Italieners hat sie die Deutschschweiz aber erst als Erwachsene entdeckt. «Ohne Familienbande fehlte der Bezug.» Auch ihre Kinder wachsen mit Französisch und Italienisch auf: Salernos Ehemann, der Genfer SP-Nationalrat Carlo Sommaruga, stammt aus dem Tessin. Genf begreift sich eben zuerst als Weltstadt und erst nachher als Teil der Schweiz. Dass die Genfer deswegen keine richtigen Patrioten sind, sollen die «compatriotes» aber nicht denken.
Salerno drückt den Besuchern ein Festplakat für den 1. August in die Hand und lächelt verschmitzt. «Sehen Sie, der Anlass wird neu von der Stadt organisiert.»
Dass Genf sich in der Deutschschweiz «schlecht verkauft», räumt Salerno aber ohne Umschweife ein. Es sei wahr, dass sich Genf stärker nach Frankreich ausrichte, sagt die Stadtpräsidentin, die nach französischem Vorbild «maire» genannt wird.
In diesem Bereich müsse sich Genf zweifellos mehr anstrengen, findet Salerno, denn von der Internationalität der Stadt profitiere ja auch die übrige Schweiz. Zudem wurzle mit dem Protestantismus ein Teil der Schweizer Geschichte in Genf. «Genf zeigt eine ganz andere Facette der Schweiz, es lohnt sich, diese zu entdecken», wirbt die Stadtpräsidentin für einen Besuch ihrer Stadt. Diese Botschaft trägt Salerno jetzt auch in den Schweizerischen Städteverband.
Nachdem Genf häufig durch die Abwesenheit seiner Vertreter an dessen Sitzungen glänzte, nimmt Salerno, wie sie betont, seit dem Ende ihres Mutterschaftsurlaubs 2009 nun regelmässig teil.