Im Streit um das UNO-Papier könnte es in der Wintersession zum Showdown kommen: Bürgerliche Parlamentarier erwägen, die Unterzeichnung des Dokuments in letzter Minute zu stoppen. Die Befürworter des Pakts befürchten, der Standort Genf als «Migrations-Hub» der Welt könnte dadurch Schaden nehmen.
Der UNO-Migrationspakt sollte zum ganz grossen Wurf werden. Eine detaillierte Bedienungsanleitung für alle Regierungen der Welt, wie sie in Zukunft mit Migranten umgehen sollen. Sei es bei der Sicherung der Grenzen, dem Kampf gegen Menschenschmuggel oder der Integration von Einwanderern. Schweizer Diplomaten spielten bei der Ausarbeitung des Dokuments eine führende Rolle. Der Bundesrat hat Anfang Monat grünes Licht für die Unterzeichnung des Papiers gegeben. Jetzt aber droht das erhoffte Glanzstück der eidgenössischen Diplomatie zu einem Fiasko zu werden: Im Parlament laufen Bestrebungen, die Unterzeichnung am 10. und 11. Dezember in Marokko zu verhindern.
Anfänglich war es nur die SVP, die gegen den «Pakt für eine weltweite Personenfreizügigkeit» Kampagne machte. Seit einigen Tagen wächst das Unbehagen aber auch bei den anderen bürgerlichen Parteien. Sie befürchten, die Kontroverse um das UNO-Dokument könnte der SVP-Selbstbestimmungsinitiative am 25. November zu einem Überraschungserfolg an der Urne verhelfen. Sie stören sich daran, dass der Bundesrat die Unterzeichnung des Pakts beschlossen hat, ohne das Parlament vorgängig zu konsultieren. «Er hätte wissen müssen, wie heikel das Thema politisch ist», sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri. Die Beschwichtigung der Landesregierung, der Pakt sei weiches Recht, also nur politisch bindend, aber rechtlich unverbindlich, überzeuge nicht. Auch Fluris Zürcher Parteikollegin Doris Fiala sagt: «Wir dürfen den Pakt in dieser Form nicht unterzeichnen.»
In den Sitzungszimmern des Bundeshauses brüten die parlamentarischen Kommissionen derzeit über der Frage, wie sie den Bundesrat in der Wintersession notfalls stoppen können – noch bevor ein Mitglied der Landesregierung den Pakt im Dezember in Marokko an einer Konferenz mit anderen Staats- und Regierungschefs unterschreiben kann.
Formell ist der Showdown aufgegleist: Die staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK) hat vor einer Woche einen Vorstoss eingereicht, welcher den Bundesrat verpflichtet, den Migrationspakt vor der Unterzeichnung dem Parlament vorzulegen. Die aussenpolitische Kommission des Ständerates überlegt sich eine gleichlautende Motion. Stimmen beide Kammern der Notbremse zu, kann der Bundesrat die Marokko-Reise absagen.
Die Zustimmung zum Pakt könnte, wenn überhaupt, erst erfolgen, wenn das Dokument durch alle parlamentarischen Instanzen gegangen ist. Also erst nach Monaten oder sogar Jahren. Es wäre eine aussenpolitische Konfrontation zwischen Bundesrat und Parlament, wie es sie in der Schweiz noch selten gegeben hat. Die Kommission hat sich laut SPK-Präsident Kurt Fluri auch auf Verzögerungsmanöver des Bundesrates eingestellt: Sie hat ihren Vorstoss bewusst mehr als einen Monat vor der Wintersession eingereicht. Das ermögliche eine Debatte noch vor der geplanten Marokko-Reise.
Was sind die Konsequenzen auf diplomatischer Ebene, wenn die Schweiz einen UNO-Pakt nicht unterschreibt, den sie selber massgeblich mitgeprägt hat? Marion Panizzon, Forscherin am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern, sagt, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten im Migrationsbereich würde schwieriger. «Die Vertrauensbasis wäre nicht mehr die gleiche.»
Auch Eduard Gnesa, ehemaliger Sonderbotschafter für Migrationszusammenarbeit des Bundesrates, spricht von einem «immensen» Schaden. Nicht weil die Schweiz den Pakt miterarbeitet habe, sondern wegen ihrer Stellung als Brückenbauerin. «Wir wären auf einer Linie mit Donald Trump in den USA und Viktor Orban in Ungarn, die einzigen Länder, die den Pakt nicht unterzeichnen.» Gnesa glaubt auch, dass Genf als Standort der wichtigsten internationalen Organisationen im Migrationsbereich – zum Beispiel dem Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) – geschwächt würde im Fall einer Nicht-Unterzeichnung.
Das Aussendepartement von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis stellt sich auf den gleichen Standpunkt: Die Schweiz würde eine «Schwächung des internationalen Genfs» riskieren. Die Rhonestadt sei heute der Dreh- und Angelpunkt des Migrationsdialogs. Die wichtigsten internationalen Organisationen, in erster Linie die Internationale Organisation für Migration, hätten ihren Sitz in Genf.
In der schweizerischen Aussenpolitik wird die Kontroverse um den Migrationspakt so oder so Folgen haben. Am Freitag wollten die Mitglieder der aussenpolitischen Kommission des Ständerates (APK) von Aussenminister Cassis wissen, wie der Bundesrat in Zukunft mit weichem Recht umgehen will. Bereits 2014 hatte CVP-Nationalrat Marco Romano in einer parlamentarischen Initiative verlangt, dass der Bundesrat das Parlament bei der Übernahme von weichem Recht in den Entscheidungsprozess einbeziehen muss. Die ständerätliche APK gab der Initiative damals keine Folge und einigte sich mit dem Bundesrat auf ein Gentlemen’s Agreement, wonach die Landesregierung dem Parlament «Soft Law» freiwillig vorlegt.
Jetzt aber erwägen die Politiker als Reaktion auf die ausgebliebene Konsultation beim Migrationspakt, diese informelle Lösung durch eine verbindliche Regelung im Parlamentsgesetz zu ersetzen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.