Biel testet zweisprachige Schule

Deutschschweizer und Romands sitzen in derselben Klasse und werden die eine Hälfte der Woche auf Deutsch, die andere auf Französisch unterrichtet. Erste Erfahrungen sind vielversprechend – aus der Lehrerschaft gibt es aber Kritik.

Reto Wissmann
Drucken
Im Kindergarten in Biel haben Deutsch und Französisch denselben Stellenwert. Die Kinder lernen auch voneinander die jeweils andere Sprache. (Bild: Reto Wissmann)

Im Kindergarten in Biel haben Deutsch und Französisch denselben Stellenwert. Die Kinder lernen auch voneinander die jeweils andere Sprache. (Bild: Reto Wissmann)

BIEL. Im Kindergarten von Mariella Surber in Biel herrscht ein munteres Durcheinander. Die vier Mädchen am Tisch bekommen davon aber kaum etwas mit, zu vertieft sind sie in ihr Brettspiel. Plötzlich kommt Unruhe auf. Wer ist jetzt an der Reihe? «Il faut faire comme ça», sagt eine Fünfjährige und zeigt resolut in die Richtung der Ohrfeige nach. «Nei, itz bin ig dranne», protestiert das Mädchen auf der anderen Seite.

«Es ist super zu sehen, wie die Kinder immer mehr miteinander sprechen», sagt Kindergärtnerin Marielle Surber. Sie stammt ursprünglich aus der Ostschweiz, hat in Freiburg die zweisprachige Ausbildung absolviert und unterrichtet jetzt an einer der unterdessen sechs zweisprachigen Pilotklassen im Bieler Plänke-Schulhaus. «Das System funktioniert», sagt sie nach ihrem ersten Jahr in Biel, «auch wenn es Hindernisse zu überwinden gibt.»

Kinder lernen auch voneinander

«Das System» der Filière bilingue ist einfach: Die Klassen bestehen je zu einem Drittel aus Deutsch-, Französisch- und Fremdsprachigen. Die eine Hälfte der Zeit werden sie von einer deutschsprachigen Lehrperson in deren Muttersprache unterrichtet, die andere von einer französischsprachigen. Reziproke Immersion nennt sich das im Fachjargon. Die Kinder lernen die andere Sprache nicht nur von ihrer Lehrerin, sondern auch im Kontakt mit ihren Mitschülern.

Trotz Wechsel der Unterrichtssprache bleibt der Lehrplan für die Kinder die ganze Zeit über derselbe. Die einen Klassen werden nach dem Lehrplan des Kantons Bern unterrichtet, die anderen nach dem Plan d'étude Romand. So kommt es vor, dass eine welsche Lehrerin Mathematik auf Französisch nach dem deutschsprachigen Lehrplan unterrichtet oder dass deutschsprachige Kinder bereits ab der ersten Klasse «Schnürlischrift» lernen, wie das bei den Romands üblich ist.

Fibi, wie der Schulversuch liebevoll genannt wird, ist das ambitionierteste Zweisprachigkeitsprojekt, das Biel bisher angegangen ist. Sogar eine Delegation des Europarats war deswegen zu Besuch. Die Stadt gibt sich zwar gerne als Hochburg der Zweisprachigkeit aus, in der Realität ist es aber mehr ein Neben- statt Miteinander von Deutsch und Welsch.

180 Anmeldungen für 40 Plätze

Bei den Eltern gibt es jedoch eine starke Nachfrage nach einer zweisprachigen Schule. Bei einer Umfrage hatten 90 Prozent Interesse gezeigt. Die Angst der französischsprachigen Minderheit, damit ihre Identität zu verlieren, scheint verschwunden. Für die jährlich 40 Plätze in der Filière bilingue gehen jeweils zwischen 120 und 180 Anmeldungen ein. Unterdessen läuft das Projekt seit drei Jahren. «Den Kindern schadet es jedenfalls nicht», bilanziert Co-Projektleiterin Doris Bachmann.

Teilweise ohne ein Wort der anderen Sprache zu verstehen, kommen die Kinder in eine Schule, in der zur Hälfte eine Fremdsprache gesprochen wird. Nach ersten Auswertungen behindert sie das weder in ihrer sozialen Entwicklung noch in ihrem Lernfortschritt. Selber empfinden die Kinder das spezielle Schulsystem als ganz normal. «Es ist gut so, wie es ist», sagt ein Erstklässler dazu. «Die Schüler beherrschen zwar nach einigen Jahren die andere Sprache nicht perfekt, sie beginnen sich aber selber als richtige Bilingues zu verstehen», sagt Doris Bachmann. So vielversprechend die Resultate des Versuchs sind, so schwierig war und ist dessen Umsetzung. Zunächst mussten motivierte Lehrpersonen mit ausreichenden Sprachkenntnissen und Offenheit gegenüber der anderen Kultur gefunden werden. Dann galt es, eine spezielle Didaktik der Zweisprachigkeit zu entwickeln. Welche Lehrmittel ab der dritten Klasse eingesetzt werden, wenn der systematische Fremdsprachenunterricht beginnt, ist noch unklar. Und schliesslich ist ein Problem aufgetaucht, mit dem die Projektleitung nicht gerechnet hat: Je besser die Kinder lernen, die andere Sprache zu verstehen, desto schwieriger sind sie zu motivieren, sie auch zu sprechen. Man versteht sich ja auch, wenn jeder seine Sprache spricht.

Kritik an Bevorzugung

In dieser Woche beenden die ersten Kinder ihr drittes Jahr in der Filière bilingue. Ein weiteres Jahr ist der Pilotversuch gesichert, danach ist alles offen. Voraussichtlich im Herbst wird das Stadtparlament entscheiden müssen, wie es weitergeht. Von den Eltern kommt Druck auf eine Ausweitung, in Lehrerkreisen überwiegt hingegen die Skepsis. Die zweisprachigen Klassen würden bezüglich Ausländeranteil, Klassengrösse, finanziellen Mitteln und Integrationsaufgaben gegenüber den anderen Klassen bevorzugt, wird kritisiert. Lehrpersonen sehen gar die Chancengleichheit in Gefahr und fürchten, es entstünden Sonderklassen für den bildungsnahen Mittelstand.

«Ich wehre mich dagegen, dass dies ein elitäres Projekt ist», kontert Co-Projektleiterin Doris Bachmann, «wir haben Familien aus allen Schichten.»