Belästigungsvorwürfe bei RTS
Sexismus-Expertin Isabel Rohner: «Ohne Männer geht es nicht»

Im Interview spricht Expertin Isabel Rohner über sexistische Arbeitskulturen und erklärt, was das späte Frauenstimmrecht mit den vielen Sexismus-Fällen von heute zu tun hat.

Nina Fargahi
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Sexismus-Expertin Isabel Rohner: «Ein Problem löst sich nur, wenn man den Mut hat, es als Problem anzuerkennen.»

Sexismus-Expertin Isabel Rohner: «Ein Problem löst sich nur, wenn man den Mut hat, es als Problem anzuerkennen.»

Hat die Schweiz ein Sexismus-Problem?

Isabel Rohner*: Sexismus ist kein spezifisch schweizerisches Problem. Aber die Schweiz hat mit diesen vielen Fällen der letzten Zeit die historische Chance, einiges aufzuarbeiten. Die vielen Fälle bedeuten nicht, dass wir heute mehr Sexismus haben als früher, sondern dass sich die Leute vermehrt getrauen, das Problem anzusprechen.

Die SRG hat im Zuge der Untersuchungen den RTS-TV-Chefredaktor über die Klinge springen lassen. Reicht es, oben einfach eine Person auszuwechseln?

Es kann eines von vielen Mitteln sein. Um eine sexistische Arbeitskultur zu verhindern, braucht es allerdings mehr Frauen in Entscheidungspositionen. Es braucht ein Klima, in dem es ganz normal ist, dass Betroffene von Sexismus sich outen können, ohne berufliche Nachteile zu befürchten. Im Fall von Tamedia haben die Journalistinnen viel Mut bewiesen, mit ihrem Namen hinzustehen. In Medienhäusern ist das Thema Sexismus besonders schwierig.

Warum?

Weil Medien die Aufgabe haben, über Missstände zu berichten. Was aber, wenn die Missstände die eigene Branche betreffen? Als der Protestbrief der Tamedia-Journalistinnen publik wurde, war das Schweigen der anderen Medienhäuser ziemlich laut. Man hatte wohl Angst: Was ist, wenn die Zustände bei uns auch so sind? Werden die Kollegen dann auch mit dem Finger auf uns zeigen? Aber ein Problem löst sich nur, wenn man den Mut hat, es als Problem anzuerkennen.

Beim Thema Sexismus geht es ja nicht um ein paar Sprüche. Können Sie erklären, worum es wirklich geht?

Sexismus ist die Benachteiligung oder Diskriminierung einer Person aufgrund des Geschlechts. Er kann sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigen. Zum Beispiel in Hierarchien, in ungleichen Aufstiegschancen und Löhnen, in einer bestimmten Kultur des Miteinanders oder auch in Gewalt. Sexismus ist dabei immer auch Ausdruck von Respektlosigkeit.

Allerdings können nicht alle bei sich selbst diese subtilen Mechanismen erkennen.

Deshalb ist es wichtig, dass auch Männer ins Handeln kommen. Ohne Männer können wir Sexismus nicht bekämpfen. Bestes Beispiel: Der türkische Präsident Erdogan stellt nur dem EU-Ratspräsidenten Michel einen Stuhl hin und lässt die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen einfach stehen. Von Erdogan hat wohl niemand etwas anderes erwartet, aber es wäre an Charles Michel gewesen, sich nicht einfach zurückzulehnen. Er hätte handeln müssen.

Sie haben sich in Ihrem Buch mit dem späten Frauenstimmrecht in der Schweiz befasst. Ist das mit ein Grund für die heutigen Sexismus-Probleme?

Gesetze schaffen die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens, damit können sie auch sexistische Strukturen befördern. Zum Beispiel mit der fehlenden Individualbesteuerung oder der nicht vorhandenen Elternzeit, die Vätern und Müttern ganz bestimmte Rollen zuweist und Ungleichheiten schafft. Man stelle sich vor: Alle unsere Gesetze vor 1971 wurden ohne Beteiligung – und daher ohne die Interessen – von Frauen verabschiedet. Unsere Gesellschaft ist noch immer sehr geprägt von der gesetzlichen Realität einer Zeit, wo Frauen ihre Rechte an der Garderobe abgegeben haben.

Wie würde eine Gesellschaft ohne Sexismus aussehen?

Sie wäre gleichberechtigt, jedes Individuum könnte sein Potenzial nutzen, seine Talente entfalten, ohne in starre Rollenbilder und Schubladen gezwängt zu werden. Die Männer würden genauso profitieren wie die Frauen.

*Isabel Rohner ist promovierte Germanistin und Herausgeberin des Buchs «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung». Sie befasst sich auch in ihrem Podcast immer wieder mit strukturellem Sexismus.