Die SBB schaffen es wohl nicht, ihre Fernverkehrszüge fristgerecht rollstuhlgängig zu machen. Behindertenverbände wollen notfalls den Rechtsweg beschreiten.
Längere Bahnreisen sind für Behinderte heute oft kompliziert. Rollstuhlnutzer müssen mindestens eine Stunde vor Abfahrt eine Hebebühne und einen Mitarbeiter bestellen, per E-Mail 24 Stunden vorher. Dies soll einfacher werden: Das 2004 in Kraft gesetzte Behindertengleichstellungsgesetz sieht vor, dass bis Ende 2023 grundsätzlich alle Anlagen und Fahrzeuge des ÖV barrierefrei angepasst sein müssen. Im Regionalverkehr, wo die SBB und Privatbahnen viel Geld in neues Rollmaterial investiert haben, ist das Ziel in Reichweite.
Doch im überregionalen Bereich haben die SBB Mühe, dieses zu erreichen. "Im Fernverkehr kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Barrierefreiheit bis zum Ablauf der Frist realisiert wird", schreibt die Fachstelle für Mobilitätsfragen des Bundesamts für Verkehr (BAV) in ihrem neusten Bericht vom Januar.
Vorzeitiger Ersatz führt zu hohen Kosten
Deshalb hat das BAV im Juli 2016 eine Richtlinie erlassen. Per Ende 2023 soll auf jeder Fernverkehrstrecke mindestens ein Zug pro Stunde und Richtung fahren, der einen niveaugleichen Einstieg aufweist, der für Rollstühle und Rollatoren nutzbar ist. Ausnahmen gelten für Neigezüge. Im SBB-Fernverkehr bilden nach wie vor die Intercity-Wagen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren das Rückgrat, die etwa bis 2035 im Einsatz stehen sollen. Die IC-Doppelstockzüge haben zwar Niederflureinstiege, sind aber nicht hindernisfrei zugänglich.
"Es wäre unverhältnismässig, alle zurzeit verkehrenden Züge vor Ende ihrer Lebensdauer ausser Betrieb zu setzen", sagt BAV-Sprecher Gregor Saladin auf Anfrage. Mit der Richtlinie würden die Anforderungen auch im Fernverkehr so weit wie möglich erfüllt und die vorgesehene Verhältnismässigkeit berücksichtigt. "Die Schweiz geht deutlich weiter als EU-Staaten."
Die SBB rechnen heute damit, dass sie die vom BAV präzisierten Ziele bis Anfang 2024 erfüllen können. Es sei aber nicht möglich, innerhalb der Umsetzungsfrist den gesamten Fahrzeugbestand zu erneuern, sagt Sprecher Christian Ginsig. Die SBB stehen im internationalen Verkehr zusehends in Konkurrenz zu billigen Fernbussen, die keine Niederflureinstiege haben. Ein Ersatz des nicht rollstuhlgängigen Rollmaterials würde zu Kosten von mehreren hundert Millionen Franken führen. Mit Ausnahme der Neigezüge des Typs ETR 610 haben die SBB seit 2004 keine Züge mehr ohne Niederflureinstieg gekauft.
Die bestehende Flotte soll nachgerüstet werden. Die SBB wollen neue Niederflur-Zwischenwagen beschaffen und die IC-Doppelstockwagen so anpassen, dass ein hindernisfreies Einsteigen in einem Erstklass- und im Speisewagen möglich ist. Zudem warten sie auf die Ablieferung der bereits 2010 bestellten Intercity-Doppelstockzüge. Mit den Dienstleistungen des Callcenters für Behinderte würden die Vorgaben für alle Fernverkehrszüge erfüllt, sagt Ginsig.
Verspätung trotz langer Umsetzungsfrist
Den Behindertenverbänden genügt dies nicht. Grundsätzlich sollten Personen im Rollstuhl den ÖV ohne Personenhilfe benutzen können, sagt Marc Moser, Sprecher des Dachverbandes Inclusion Handicap. Die Richtlinie das BAV sei langfristig ebenfalls kein gangbarer Weg, wenngleich ein Zug pro Stunde besser als keiner sei. "Der gesamte ÖV muss komplett hindernisfrei zugängig sein." Die Umsetzungsfrist sei mit 20 Jahren grosszügig bemessen gewesen, sekundiert Suzanne Auer, Zentralsekretärin des Verbandes Agile. "Falls das Ziel nicht erreicht wird, prüfen wir den Rechtsweg." Dies wäre auch für Inclusion Handicap eine Option. Man nutze das Verbandsbeschwerderecht regelmässig, um das Gesetz durchzusetzen.
Immerhin: Die 29 bestellten Hochgeschwindigkeitszüge für den Nord-Süd-Verkehr, die Stadler ab 2019 abliefern will, werden die Anforderungen vollständig erfüllen. Damit setzen die SBB auch im internationalen Verkehr eine hohe Messlatte.