Was nützt Forschung in einem Schutzgebiet wie im Schweizerischen Nationalpark, der vor 100 Jahren gegründet worden ist? Viel, sagt Britta Allgöwer. Zum Beispiel beim Abbau von alten Mythen über Geier und Tannenhäher.
Seit Jahrtausenden hat sich der Mensch die Natur untertan gemacht, bekanntlich nicht nur zu ihrem Besten. Interessant ist deshalb die Frage, was passiert, wenn man die Natur sich selber überlässt. Diese Frage beschäftigte die Gründer des Schweizer Nationalparks schon vor 100 Jahren, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war, wie Britta Allgöwer sagt, die im Nationalpark forscht und Direktorin des Natur-Museums Luzern ist. «Von Anfang an war das ein revolutionärer Grundgedanke der Gründer: Zu sehen, was geschieht, wenn sich der Mensch zurückzieht», sagt Allgöwer, die morgen in St. Gallen referieren wird.
Den Gründungsvätern, die im Engadin im August 1914 der ersten und einzigen Nationalpark eröffnet haben, verdanken wir somit ein einzigartiges Forschungsgebiet, aus dem entsprechend spannende Resultate herausgearbeitet werden können. Überlasse man die Natur sich selbst, setze das Prozesse in Gang, die in der Kulturlandschaft unterdrückt würden, erklärt Allgöwer. «In der Natur beginnt dann ein Kommen und Gehen.»
Die Natur ist eine Summe von vielen Abhängigkeiten und Symbiosen. Wenn der Mensch eingreift, beeinflusst er diese zu seinem Nutzen. So dass Getreide und Äpfel wachsen. Hält sich der Mensch zurück, wächst das, was an diesem Ort das grösste Potenzial hat. Nicht Mais oder Kartoffeln, nicht die schnellwachsenden Fichten, die ein Förster im 19. Jahrhundert gepflanzt hat, sondern ein Laubmischwald im Mittelland, und im Berggebiet ein Wald mit anderen Nadelbaumarten als nur Fichten. Möglicherweise entstehen auch Ökosysteme, die man gar nicht erwarten würde.
Doch ist die Natur im Schweizerischen Nationalpark wirklich sich selbst überlassen? Drei Punkte prägen das eidgenössische Nationalpark-Gesetz: Zuoberst stehen der Schutz der Natur und deren Prozesse. Zum zweiten die Begehbarkeit und Zugänglichkeit des Nationalparks für Interessierte und an dritter Stelle die Forschung. «Grundsätzlich sind alle natürlichen Prozesse erlaubt», sagt Allgöwer. Die Natur soll selber entscheiden, wie sie sich entwickelt. Es dürfen Lawinen ins Tal schiessen, Murgänge die Erde verschieben, Bäume sterben, und der Borkenkäfer darf wirken. Eine Einschränkung legt die Park-Verordnung aber fest: «Es darf keine Schäden geben für Dritte», erklärt Britta Allgöwer.
Gibt es zum Beispiel eine Überpopulation einer Tierart in einem Nachbargebiet wegen des Nationalparks, haftet dieser dafür. Auch bei einem Waldbrand, dem Forschungsgebiet von Britta Allgöwer. Das Feuer hält sich nicht an Nationalpark-Grenzen, ein Waldbrand kann deshalb über den Park hinaus gefährlich werden. Deshalb wird bei einem Brand eingegriffen und gelöscht. Schutz hat auch die Ofenpass-Strasse, die durch den Park führt, und als Verbindung ins Münstertal garantiert werden muss. Dafür gibt es «unnatürliche» Steinschlagnetze und Lawinenverbauungen entlang der Strasse. Ansonsten lässt man der Natur ihre Freiheit. Nach einem Brand müssen die natürlichen Selbstheilungskräfte wirken. Das geht allerdings langsam vor sich. «Wir überblicken vielleicht 70 bis 80 Jahre. Ein Baum wächst aber je nach Art über Jahrhunderte. Diese Prozesse haben also ganz andere Zeitdimensionen», sagt Allgöwer. Diese zu verstehen, sei eine Herausforderung innerhalb der vielen Forschungsgebiete, welche die Wissenschaftliche Nationalpark-Kommission zusammen steuert und managt. Denn Geologe, Biologe und Botaniker sollen sich nicht stören bei ihrer Arbeit im Park.
Ein entscheidender Beitrag der Nationalpark-Forschung besteht in der Aufklärung, der Auflösung alter Mythen, welche Wildtieren über Jahrhunderte geschadet haben und immer noch schaden. Als 1990 die ausgerotteten Bartgeier im Nationalpark ausgesetzt wurden, wehrte sich der Bündner Bauernverband. Der Bartgeier habe es auf die Lämmer abgesehen. Ein völliger Unsinn, inzwischen weiss jedes Kind, dass der Geier keine Lämmer schlägt, sondern gierig auf Aas ist. Dafür brauchte es allerdings hieb- und stichfeste Argumente der Wissenschafter. «Die Geierfrage beschäftigt uns heute auch in der Zentralschweiz und trotz aller Aufklärung, und zwanzigjähriger Erfahrung gibt es dort noch Leute, die skeptisch sind», sagt Allgöwer.
Kopfschütteln löst heute ein weiteres Beispiel auf. Bis in die späten 1950er-Jahre hinein wurde der Tannenhäher in Graubünden als Feind der Arve betrachtet. «Man glaubte, er fresse der Arve die Samen weg. Er frisst sie zwar, aber er versteckt sie auch und findet nicht alle Samen. So trägt der Tannenhäher sogar zur Verbreitung der Arven bei», erzählt die Direktorin des Luzerner Natur-Museums.
Dank der Forschungserkenntnisse wurde 1961 für den Vogel ein Abschussverbot erwirkt – heute ist der Tannenhäher das sinnbildliche Logo des Nationalparks. Dank der Forschung in einem Schutzgebiet fand der Tannenhäher seine Ruhe und der Bartgeier nach seiner Aussetzung einen geschützten Ort, an dem er sich ungestört entwickeln konnte. Vielleicht hilft die Forschung auch mal dem Wolf.