Rückenschmerzen sind die Volkskrankheit Nummer eins. Auch bei Kindern. Helfen würde aber schon ein bisschen mehr Bewegung oder ab und zu ein Purzelbaum.
Kinder bewegen sich automatisch. Schon ein Baby beginnt ziemlich stark zu zappeln, wenn es sieht, wie sein Schoppen zubereitet wird. Es festzuhalten, fällt dann schwer. Oder fährt im Zugabteil eine Familie mit Kindern mit, sieht man immer wieder, wie diese auf den Polstern hoch und runter wippen. Und im Restaurant gehört es zum oft beobachteten Bild, wie Eltern versuchen, ihre Kinder am Esstisch ruhig zu halten. Aber trotz dieses angeborenen Bewegungsdrangs (siehe Kasten) bewegen sich die heutigen Kinder viel zu wenig. Die Folge ist, dass immer mehr Kinder an Rückenschmerzen leiden. Was also läuft falsch?
Zunehmende Rückenschmerzen bei Kindern war das Thema des letzten europäischen Orthopädiekongresses in Istanbul. Das Fazit: Es gibt zwar mehr Kinder und Jugendliche mit Rückenschmerzen, zugleich aber auch ein verstärktes Bewusstsein für das Problem und ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse. Hanspeter Huber, Oberarzt der Kinderorthopädie am Kinderspital in Zürich und Konsiliararzt am Kantonsspital Münsterlingen und Frauenfeld, sagt, dass man daher die Zunahme an Rückenschmerzenfällen kontrovers diskutieren müsse.
Dass Rückenschmerzen aber vermehrt untersucht und erforscht würden, sei vor allem von gesellschaftlichem Interesse. «Wer bereits als Kind Probleme mit dem Rücken hat, wird mit viel höherer Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener davon betroffen sein», sagt er. Fakt ist: Etwa 50 Prozent aller chronischen Schmerzprobleme sind auf Rückenschmerzen zurückzuführen. «Dadurch entstehen sozioökonomische Kosten von geschätzten fünf Milliarden Franken pro Jahr», sagt Huber.
Alarmierend ist, dass vor allem jene Rückenschmerzen zugenommen haben, die durch Bewegungsmangel verursacht werden. «Purzelbäume sind ein typisches Beispiel dafür. Heutige Kinder machen das viel weniger als früher. Dafür sitzen sie lieber vor den Spielkonsolen», sagt Huber. Ein Problem, das auch die Ärzte im Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen beschäftigt. Harry Klima, leitender Arzt der Kinderorthopädie, sagt, dass 50 Prozent aller Schweizer Kinder gelegentlich an Rückenschmerzen leiden. «Man muss sich vor Augen führen, dass man heutzutage im Alltag hauptsächlich liegt und sitzt», sagt er. Das gilt zunehmend auch für Kinder. «Viel gehen würde da schon viel helfen.»
Kommt also der Erstklässler von der Schule nach Hause und klagt über Schmerzen im Nacken oder im Kreuz, tun Eltern genau das Falsche, wenn sie ihm Ruhe verordnen und ihn umsorgen. Draussen spielen, toben und laufen wäre hingegen das richtige Mittel, sagt die Zürcher Bewegungspädagogin Janine Dick und fügt an: «Rückenschmerzen sind zur Volkskrankheit Nummer eins geworden. Wir sind eine Sitz-Hochleistungsgesellschaft.» In ihrer Rückenschule bietet Dick daher Kurse für Kinder an. Hier lernen sie ihren Rücken kennen und verstehen. Etwa durch die Geschichten über die «Bandschis». Das sind kleine Wesen, die als Bandscheiben in den Körpern der Kinder wohnen. «Ich zeige den Kindern dann, mit welchen Bewegungen sie die Bandschis zum Lachen bringen und was sie krank und traurig macht.» Dick setzt sich dafür ein, dass man präventiv etwas für den Rücken macht. «Dann, wenn noch alles gut ist.» Daher geht sie auch in Schulen und überprüft als «Rückenfrau», ob Tische und Stühle richtig eingestellt sind und die Kinder nicht verkrümmt dasitzen. Vor allem älteren Lehrern sei dieses Problem nicht bewusst. Genauso wenig wie vielen Eltern. «Auch wenn es erstaunt, immer häufiger muss ich Eltern darauf aufmerksam machen, dass sich ihr Kind zu wenig bewegt.»
Auch wenn fast jeder in seinem Leben mal an Rückenschmerzen leidet: Nur selten handelt es sich dabei um gefährliche Erkrankungen.
Trotzdem muss man jeden Fall genau anschauen. Vor allem bei Kindern unter fünf Jahren. «In den ersten Lebensjahren wächst der Rücken besonders stark. Und wenn ein kleines Kind ausdrücklich sagt, dass es Schmerzen im Rücken hat, muss man das ernst nehmen.» Einen Arzt aufsuchen müsse man mit seinem Kind oder als Erwachsener, wenn man wegen Rückenschmerzen nachts aufwache, Gewicht verliere oder Fieber bekäme. Bei kleineren Kindern könnte es sich etwa um eine eitrige Bandscheibenentzündung handeln, Tumore in der Wirbelsäule oder angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule. Bei Mädchen im Jugendalter ist Skoliose, die Verkrümmung der Wirbelsäule, eine häufige Krankheit. Etwa zwei Prozent der Jugendlichen erkranken daran. Bei den Jungen kommt der Morbus Scheuermann etwas häufiger vor. Bei dieser Krankheit bildet sich ein Buckel. Beide Erkrankungen führen nur selten zu Schmerzen und können durch eine Korsetttherapie behandelt werden.
Dann wären da noch jene Kinder und Jugendlichen, die mehr als sechs Stunden pro Woche trainieren oder Leistungssport machen. Gymnastik, Fussballgoalie, Golf und Volleyball sind alles Sportarten, bei denen der Rücken besonders überstreckt wird. «Diese Kinder haben übrigens häufiger Schmerzen als Kinder, die gar nichts machen», sagt Huber. Dann helfen nur eine Sportpause, Physiotherapie und Massagen.
Sportliche Menschen zur Pause zu zwingen, sei aber das kleinere Problem, als passive Menschen zur Bewegung anzutreiben. «Das ist die wahre Herausforderung und das einzige, was längerfristig hilft.»