Lesbar provokativ
picture-1937599855-accessid-532657.jpg
Helmut Krausser: Geschehnisse während der Weltmeisterschaft. Berlin-Verlag, 240 S., Fr. 27.–
Athletisch, gefühllos und umrahmt von Starkult und Geld, aber bedroht von Terroristen: Helmut Krausser spitzt Pornografie zu und erfindet eine Sportficker-Weltmeisterschaft 2028. Etwas klischiert ist Leon, der Star dieser Sportart und Erzähler im Roman, der hinter schnoddrigem Zynismus den vereinsamten Romantiker versteckt. Er ist in seine Bühnenpartnerin Sarah verliebt, was aber tabu ist und sehr schlecht ausgeht. Pornografisch ist das Buch auf keiner Seite, die Sprache ist technokratisch umgedeutet: Geschlechtsorgane sind Spogs (Sportgeräte). Krausser versucht sich als deutscher Houellebecq: Die westliche Welt ist zweigeteilt in seelenlosen Hedonismus und rabiaten Fundamentalismus, Terror gehört zum Alltag, desillusionierte Figuren ekeln sich vor sich und über die Gesellschaft, Machismo ist Provokation gegen politische Korrektheit, philosophisch raunen Pessimismus und Erlösungsfantasie. Letztere ist in einer Parallelhandlung (ein vermeintlich Gelähmter schreibt Sarah gefühlvolle Briefe) geschickt aufgegleist. Das Buch möchte Seelenbild, Thriller und beissende Gesellschaftsutopie sein. Die knallig-böse Dystopie wird aber ab der Mitte recht vorhersehbar.
picture-1937638288-accessid-532659.jpg
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Neu übersetzt, dtv, 336 S., Fr. 37.–
In unseren Zeiten libertärer Jungparteien wirkt dieser Roman erstaunlich aktuell. Eine poetische und trotzdem sprachlich frische, entstaubte Übersetzung dieses russischen Klassikers legt Ganna-Maria Braunhardt hier vor. Etwas im Schatten von Tolstoi und Dostojewski schrieb Iwan Turgenjew 1861 «Väter und Söhne» und erfand im jungen Mediziner Basarow den ersten Nihilisten der Weltliteratur, der sich selbst so bezeichnete. Als Teil einer radikal-liberalen Jugendbewegung verachtet er Romantik und konservative Werte. Wissenschaftsgläubigkeit und das Vorrecht des Individuums vor Religion, Staat und deren Werten machte als Ideologie danach Schule – in Philosophie und Politik. Der Roman, der einen Generationenkonflikt beleuchtet, ist im gleichen Jahr erschienen, in dem der Zar die Leibeigenschaft abschaffte. Ein ausführlicher Anhang mit Nachwort und Erläuterungen erschliesst den Roman vorbildlich.
Hansruedi Kugler