Begeisterte Skifahrer gibt es Hunderttausende. Doch kaum einer hat so viele Gebiete gesehen wie der Zürcher Roger Gfrörer. Von Japan bis Chile ist er auf 5000 Ski- und Sesselliften gefahren. Und er will noch viel mehr.
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Andere wollen die Welt verbessern oder auf den Mond fliegen oder alle Länder des Planeten bereisen. Roger Gfrörers Traum ist pragmatischer, aber dennoch nicht sehr naheliegend. Zumindest nicht für Menschen, denen der Skivirus fremd ist. Wenn Gfrörer, der 46-jährige Doktor der Ökonomie, wählen könnte, dann würde er am liebsten mindestens einmal im Leben in jedem Skigebiet der Welt seine Alpin- oder Telemarkski anschnallen. Auf allen Kontinenten ausser Afrika hat er es bereits getan. Auf 5000 verschiedene Skilifte, Sessel- und Seilbahnen bringt er es per Ende 2017, auf über 513 Skigebiete in 18 Ländern von Australien über Andorra bis Argentinien.
Was treibt ihn an? Es sind nicht nur die Zahlen. Gfrörer sagt, die Landschaften würden sich in magische Orte verwandeln, wenn der Schnee sie in Weiss taucht. Ganz besonders ist ihm das beim Skifahren in Schottland aufgefallen. Und fast nichts komme an das Gefühl heran, eine perfekte Kurve auf einer frisch präparierten Piste oder einem tief verschneiten Hang zu fahren. «Und sowieso gibt es kaum erfülltere Tage, als wenn man nach vielen Stunden auf den Ski am Abend müde ins Bett sinkt.» Roger Gfrörer – wen wundert’s – war schon als Kind vom Skifahrervirus befallen. Geimpft dagegen hat er sich nie. Warum denn auch. Als kleiner Bub rannte er in der Stube mit den Stöcken unter dem Arm herum und simulierte Abfahrtsrennen und Riesenslaloms. Zu Weihnachten wünschte er sich meistens ein neues paar Ski. «Der schlimmste Tag des Jahres war immer der letzte Tag der Skiferien», erinnert sich Gfrörer in seinem Büro an der Uni Zürich. Dort berät er als Leiter der Career Services Studenten bei der Laufbahnplanung. Dass er selber eine akademische Karriere einschlug, hat Gfrörer auch seinen Eltern zu verdanken. Diese drängten ihn dazu, schulisch am Ball zu bleiben, als er als Teenager die Gymnasiumpläne begraben wollte. Der Grund: An der Kanti in Zürich gab es im Gegensatz zur Sek nur eine Woche Skiferien.
Eine Art zweites skifahrerisches Erweckungserlebnis hatte Gfrörer 2006. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit gönnte er sich eine vierwöchige Reise durch Frankreich: Während andere von Strand zu Strand pilgern oder sich durch Michelin gekrönte Gourmettempel essen, zog es Gfrörer von Skigebiet zu Skigebiet. In der Nähe von Nizza fing er an, kämpfte sich durch die französischen Alpen von Lift zu Lift bis zum Genfersee und führte exakt Buch darüber. Neben der stetig länger werdenden Liste der gefahrenen Bahnen faszinierte ihn die Schönheit der Täler und der Berge, das Gefühl von Freiheit, die Euphorie, welche die Fliehkräfte auslösen, wenn der Ski im richtigen Moment dreht und eine perfekte Kurve gelingt. Wenn der Rhythmus alles ist und die Welt vergessen geht, weil es nur den Schnee, die Piste und den Berg gibt.
2007, im Jahr darauf, nahm er sich wiederum im Winter eine mehrwöchige Auszeit und zog mit Freunden den Skigebieten in den italienischen Alpen entlang bis zu den Dolomiten und dem Salzburgerland. Gfrörer ist danach in Japan skigefahren, in Australien, in Nordamerika, natürlich in der Schweiz und ausführlichst in allen Alpenländern rundherum. Viele Ferientage hat er dafür eingesetzt. In diesem August bereiste er zahlreiche Skigebiete in Argentinien und Chile. «Ich hatte einen ruhigen Herbst, weil ich es schon im Sommer auf 14 Skitage gebracht habe», sagt Gfrörer und schmunzelt. Doch wenn er das schönste Skigebiet der Welt bestimmen müsste, es wäre noch immer Scuol im Engadin. Nicht unbedingt, weil objektive Kriterien dafür sprechen, sondern weil er so viele Kindheits- und Jugenderinnerungen damit verbindet. Fast 20 Jahre lang verbrachte Gfrörer dort seine Skiferien, darunter auch zwei Saisons als Skilehrer. «In Scuol kenne ich jeden Meter Piste – und zwar im Schlaf.» Massenhaft Glücksgefühle stürzten auf ihn ein, wenn er draussen war und die Flocken tanzen sah, wenn er aufgeregt unter die Bettdecke schlüpfte, weil er wusste, dass es am nächsten Tag wieder auf die Piste gehen würde. Das Skifahren als Tor zur Welt. Sein Tor zur Welt, das früh auch den Weg für allerlei geografische Vermessungen öffnete. Schon als Kind faszinierten ihn Pistenpläne. Gfrörer konnte Stunden damit verbringen, solche nachzuzeichnen. Er malte auch Pistenpäne, die gar nicht existierten und nur seiner Fantasie entsprangen. Er studierte die Lifte, die Querverbindungen, die Dutzenden von Pisten, die er alle schon in seinem Kopf abgefahren hatte, bevor es das erste Mal schneite. Und er steht zuweilen heute noch vor einem Berg und freut sich, dass sich kühne Visionäre oder pragmatische Touristiker einst entschieden haben, einen Schlepplift oder eine Gondelbahn dorthin zu bauen.
Auch wenn einige den Wintertourismus und insbesondere das Skifahren in der Schweiz schon totgesagt haben, gehört Gfrörer nicht zu einer aussterbenden Spezies. Dank Marketing-Offensiven und den immer flexibler werdenden Preisen; dank den vielen Schneekanonen und -lanzen ist das Skifahren in immer mehr Gebieten auch in schneearmen Monaten möglich. Und vielleicht auch angespornt von den Erfolgen von Feuz, Holdener und Co. wagen sich wieder mehr Schweizer auf die Piste. Die letzte repräsentative Umfrage des Bundesamtes für Sport stammt von 2015. Dabei gaben 35 Prozent der Befragten an, gelegentlich skizufahren. Über 11 Prozent tun dies gar sehr häufig (über 14 Tage im Jahr). Das sind auch angesichts des immer grösser werdenden Anteils Zugewanderter und Secondos, die ohne Lauberhorn-Rennen und Pirmin Zurbriggens Weltcupsiege sozialisiert wurden, erstaunliche Zahlen. Skifahren gehört trotz Baisse in den Nullerjahren nach der Jahrtausendwende wieder zu den beliebtesten Sportarten in der Schweiz. Doch nicht nur hier. In Ländern wie Kasachstan, Russland oder China schiessen neue Lifte und Bahnen fast wie Pilze aus dem Boden. In 67 Ländern der Welt von Pakistan über Albanien bis Algerien kann man skifahren. Weltweit sind es mittlerweile 2150 Skigebiete bei total 26531 Liften, wie der diesjährige «International Report on Snow and Mountain Tourism» des Genfer Skiindustrie-Experten Laurant Vanat eindrücklich zeigt.
Die wachsende Anzahl Anlagen führt dazu, dass Gfrörer bei seinem Unterfangen, alle Skigebiete der Welt wenigstens einmal zu befahren, einen immer längeren Weg vor sich hat. Einen unerreichbar langen wohl, doch stören tut ihn das nicht. Er hat sich kleinere Ziele gesetzt: Über seine Erfahrungen führt er seit Jahren einen Blog ( grandeboucle.blogspot.ch ). Auf einer grossen Karte steckt er mit einem Fähnchen jedes bereiste Skigebiet ab. Dereinst will er auch einmal einen Skireiseführer schreiben.
Doch für Gfrörer ist klar, dass es trotz einer neuen Dynamik nicht nur gut um die Schweizer Skigebiete steht. «Der Trend ist eindeutig», sagt er. «Die Gebiete schliessen sich zu immer grösseren Einheiten zusammen. Das kann man in Italien, in Österreich, aber vor allem auch in Nordamerika beobachten. Sie haben eingesehen, dass sie sich nur über Wasser halten können, wenn sie in Tarifverbünden zusammenarbeiten.» Viele Regionen in der Schweiz lebten diesbezüglich noch in der Steinzeit, sagt Gfrörer. Dass man im Toggenburg darüber diskutiere, ob man ab 2019 noch ein gemeinsames Liftticket habe, sei angesichts dieser Entwicklungen schlicht «ein Witz».
Doch noch lieber als bei theoretischen Erörterungen übers Skifahren hält er sich auf der Piste auf. Man kann sich’s vorstellen: Ein Skitag ist bei ihm meist eine durchgetaktete Sache. Um möglichst viele Lifte und Pisten fahren zu können, studiert er die Pläne der Skigebiete lange im Voraus. Das Sandwich isst er meist in der Gondel. In die Skihütte geht er erst nach der letzten Liftfahrt. Schunkelmusik meidet er wie der Teufel das Weihwasser. Gfrörer, der als Student auch als DJ und Partyorganisator unterwegs war und noch immer hobbymässig Fussball spielt, findet es «schrecklich», wie mit Halli-Galli-Musik auf immer mehr Pisten dieser Welt bemühte Lustigkeit zelebriert werde. Und auch sonst springt der Zürcher aus der Reihe. Gfrörer gehört nämlich zu einer immer kleiner werdenden Minderheit, die ohne Helm fahren. Er glaubt nicht daran, dass der Kopfschutz das Skifahren sicherer macht. Im Gegenteil. «Viele wähnen sich in falscher Sicherheit und fahren über ihren Verhältnissen, wenn sie einen Helm tragen. Dabei gefährden sie mit ihrer riskanten Fahrweise auch andere.» Zudem sei das Sichtfeld eingeschränkt und die Akustik schlechter.
Gfrörer weiss aber auch: Nicht alle teilen seine Begeisterung. Seine letzte längere Beziehung, mit einer überzeugten Nichtskifahrerin, ging möglicherweise auch wegen seines exzessiven Hobbys in die Brüche. Er konnte sie nicht überzeugen, ihr Glück auf der Piste zu versuchen. «Ich habe höchsten Respekt vor Erwachsenen, die Skifahren lernen. Es fällt dann so viel schwerer.» Gestern Samstag übrigens meldete sich Gfrörer aus den Dolomiten und kündete ein Jubiläum an: Im Skigebiet Passo Roll absolvierte er am Freitag die Lifte 4996 bis 5000. Wieder ein Fähnchen mehr, das er zu Hause in seine Skifahrer-Weltkarte stecken wird.