Stille Menschen haben es in unserer extrovertierten Gesellschaft schwer. Manche neigen zu Rückzug und Depressionen. Doch Scheue und Introvertierte können auch brillieren – ohne sich zu verstellen.
Melissa Müller
Tom Hanks, Nicole Kidman, Beyoncé, Albert Einstein: Oft sind es grosse Künstler und Wissenschafter, die sich selbst als scheu bezeichnen, obwohl sie im Rampenlicht stehen. Viele waren schon als Kinder zurückhaltend. Damit haderte auch die Amerikanerin Susan Cain, Autorin des Sachbuchs «Still und stark». Sie erinnert sich an ein Schullager, damals eine Horrorerfahrung für das ruhige Mädchen. Das Motto war «Rowdy», alle Kinder brüllten wild umher. Susan machte mit, fühlte sich hinterher aber erschöpft – und freute sich insgeheim auf stille Lesestunden. Auch in der Schule strengte sie sich an, «um die kontaktfreudige Version meiner selbst zu spielen, weil ich glaubte, so sein zu müssen: quirlig, cool, laut».
Früher dachte Susan Cain, mit ihr stimme etwas nicht. Heute weiss sie: Etwa die Hälfte der Menschen hat ein introvertiertes Wesen. Die Autorin ermutigt Kinder und Jugendliche: «Egal, in welche Richtung du neigst, es ist in Ordnung. Der Schlüssel zu einem angenehmen Leben ist, dass du deine eigenen Vorlieben kennst.» Es geht um Selbstakzeptanz. Denn es macht keinen Sinn, sich zum Vielredner oder Partytier umerziehen zu wollen. Susan Cain hat sich von diesem Druck befreit. Heute bekennt sie sich selbstbewusst zu ihrer leisen Art und hält gar Vorträge zum Thema vor Tausenden von Zuschauern.
Susan Cain bezeichnet sich als schüchtern und introvertiert. Das sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe. Schüchternheit ist die Angst, dass andere Menschen einen nicht mögen. Solch eine Angst kann sich entwickeln, wenn man viel Kritik oder Ablehnung erfahren hat. Introversion ist dagegen eine Frage des Temperaments. Während Extrovertierte am liebsten immer Leute um sich haben, sind Introvertierte schneller gesättigt von Beziehungen. Sie haben lieber zwei, drei tiefe Freundschaften als viele lose Bekanntschaften. «Intros» brauchen Rückzug. Sie erholen sich, indem sie auch mal einen Abend allein auf der Couch verbringen. Viele fühlen sich schnell als Sonderlinge, weil Geselligkeit und Kontaktfreude in unserer Gesellschaft den höchsten Stellenwert haben. Und auch die meisten Schulen und Arbeitsplätze auf Extrovertierte ausgerichtet sind. Arbeitspsychologin Marlen Bolliger kennt sich mit dem Thema aus. Sie leitet Weiterbildungen für Führungskräfte. Bei Persönlichkeitstests, die Auskunft darüber geben, ob jemand introvertiert oder extrovertiert ist, seien die Introvertierten oft enttäuscht über das Resultat. Im Geschäftsleben zählt eine perfekte Fassade. «Dabei ist ein Team aus Alphatieren problematisch», sagt Bolliger. Es brauche auch die bedachten, vorsichtigeren Menschen, die sich Gedanken machen. «Feinfühlige Menschen, mit denen man interessante Gespräche führen kann.» Auch Introvertierte könnten lernen, sich zu exponieren. «Das kann man trainieren wie Muskeln im Fitness.»
Introvertierte, die auch noch schüchtern sind, empfinden ihre ruhige Art als Makel, etwa wenn sie beim Flirten keinen Satz über die Lippen bringen oder beim Small Talk am liebsten im Boden versinken würden. Manche greifen zu Alkohol, um das Unbehagen in sozialen Situationen zu vertreiben. Psychologen raten dazu, sich ein paar Standardsätze zurechtzulegen, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Einsamkeit, Unzufriedenheit und depressive Verstimmungen können die Folge sein, wenn Schüchterne sich verkriechen oder eine Sozialphobie entwickeln. Darunter leidet ein junger Mann, den Psychologin Marlen Bolliger berät. Er hat nur wenige Kollegen und versinkt in trüben Gedanken. Der 20-Jährige fühlt sich oft so müde und antriebslos, dass er es kaum aus dem Bett schafft. «Wir müssen alles daran setzen, dass er sich aufraffen und seine Stelle behalten kann», sagt Marlen Bolliger. «Ein Job gibt Halt und tägliche Kontakte.»
Wer glaubt: «ich bin nicht liebenswert – und den anderen kann ich auch nicht trauen», zieht sich noch mehr zurück. «Das Vermeidungsverhalten verstärkt negative Überzeugungen», sagt Jana Nikitin, Assistenzprofessorin für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel. «Schüchterne wollen sozialen Anschluss. Dabei wollen sie es vermeiden, abgelehnt zu werden. Und bleiben lieber im Hintergrund.» Die Angst vor Ablehnung führe dazu, dass Schüchterne Situationen anders einschätzen. Schaut das Gegenüber etwa gelangweilt, bezieht das der Schüchterne auf sich und denkt: «Ich bin langweilig, darum guckt er so.» Ein anderer würde denken: «Der hat schlecht geschlafen.» Es könne helfen, sich bewusst zu machen, dass man Situationen auch anders deuten kann und nicht alles auf sich beziehen sollte, sagt Nikitin.
Wer ständig darüber nachdenkt, was andere über einen denken könnten, ist befangen – und sendet unklare Botschaften aus. Schüchterne lächeln verlegen, sie entschuldigen sich dauernd, reden durch die Blume oder murmeln etwas. «Es ist besser, klare Ansagen zu machen», sagt Jana Nikitin. Und es lohne sich, die Angst vor Ablehnung zu überwinden. Denn oft malen wir uns eine Situation in den düstersten Farben aus. «Wenn wir uns trauen, ist es dann oft gar nicht so schlimm.» Die deutsche Psychotherapeutin Doris Wolf hat ein Buch über Ablehnung geschrieben. «Noch nicht mal Jesus wurde von allen geliebt», pflegt sie ihren Klienten zu sagen. Wer immer wieder Ablehnung erfährt, im Job oder in der Liebe, solle versuchen, bei einer vertrauenswürdigen Person eine ehrliche Rückmeldung einzuholen.
«Die Schüchternheit schwindet mit dem Älterwerden, weil einem das Sichbehaupten vor anderen nicht mehr so wichtig ist», sagt Assistenzprofessorin Jana Nikitin. Und ein bisschen Zurückhaltung und Fingerspitzengefühl schade niemandem. «Leute, denen jede Schüchternheit abgeht, können mühsam sein. Das sind jene, die zehnmal anrufen und nicht merken, dass sie nerven.» Also lieber ein bisschen schüchtern als ein Trampel.
Eltern schüchterner Kinder sind aber oft ratlos, wenn ihre Kleinen überall zu kurz kommen. Schüchterne Kinder hätten jedoch eher loyale Freundschaften, schreibt Susan Cain. Sie seien gewissenhaft, empathisch, kreativ und könnten gut zuhören. Die richtigen Voraussetzungen, um ein kleiner Einstein oder Filmstar zu werden.