Stephen Hawking hat ein aussergewöhnliches Leben gelebt. Geprägt wurde es von einer schweren Krankheit, die ihn in den Rollstuhl zwang und der Sprache beraubte – von der er sich aber nicht unterkriegen liess.
Rolf App
Vielleicht ist es eine Legende, was in zahllosen Porträts über Stephen Hawking als zentraler Angelpunkt seines Lebens auftaucht. Dass die Ärzte dem 21-Jährigen, an Amyotropher Lateralsklerose (ALS, siehe kleine Box) erkrankten angehenden Physiker höchstens noch zwei Jahre zu leben gegeben hätten. «Man hatte ihm gesagt, dass die Krankheit unheilbar sei und dass sich ihr Verlauf überhaupt nicht vorhersagen lasse», erinnert sich ein Studienkollege. «Sie könne für längere Zeit zum Stillstand kommen, sie bessere sich nicht, könne aber Pausen einlegen.»
So ist es gekommen. Gestern ist Stephen Hawking gestorben, er wurde 76 – und hat die vernichtende Diagnose damit 55 Jahre überlebt. Und spätestens mit seinem 1984 veröffentlichten Bestseller «Eine kurze Geschichte der Zeit» ist er zum bekanntesten Physiker überhaupt avanciert: ein Mann im Rollstuhl, der sich seit einer lebensbedrohlichen Krise nur noch mit Computerstimme bemerkbar machen konnte – und der durch seine mit viel Humor ertragenen Krankheit zum Mythos wurde. Hier schien ein lebendiger Geist über einen schwerkranken Körper zu triumphieren.
Dass Hawking darüber hinaus seine Publicity sehr genoss, förderte seine Karriere zweifellos. Für Begegnungen mit US-amerikanischen Touristen im heimischen Cambridge hatte er sogar einen Standardspruch programmiert: «Ich werde ständig mit diesem Mann verwechselt.»
Geboren wird Stephen Hawking am 8. Januar 1942, mitten im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs, im sicheren Oxford, wohin sich die Mutter aus London zurückgezogen hat. Die Mutter ist Wirtschaftswissenschafterin, der Vater Tropenmediziner. Stephen, der Sohn, soll in seine Fussstapfen treten und Medizin studieren. Doch er will nicht, sein Herz schlägt für Mathematik und Physik. Und obwohl zwei seiner Freunde gewettet haben, dass nie etwas aus ihm werden würde, besteht Hawking die Aufnahmeprüfung in Oxford mit Bravour.
«Stephen hat sich von Anfang an alles selbst beigebracht», erinnert sich später die Mutter Isobel Hawking. «Wenn er irgendwelche Dinge nicht lernen wollte, dann lag es wahrscheinlich daran, dass er sie nicht brauchte.»
Das Studium fällt dem erst Siebzehnjährigen leicht. «Damals gehörte es in Oxford nicht zum guten Ton, fleissig zu sein», erinnerte er sich. «Entweder man war ohne irgendwelche Mühe brillant, oder man fand sich mit seinen Grenzen ab.» Auf Stephen Hawking trifft das Erstere zu.
Statt die Aufgaben in seinem Physiklehrbuch zu lösen, zeigt er dem verblüfften Dozenten die Fehler, die dem Verfasser dieses Lehrbuchs unterlaufen waren. Hawking findet Freunde, im Ruder-Achter übernimmt er mit scharfer Stimme den Job des Steuermanns. Dann aber stolpert er manchmal, stürzt über eine Treppe, verliert hin und wieder die Kontrolle über seine Sprache. Von einer Reise in den Iran kommt er in hundsmiserabler Verfassung zurück nach Hause.
An Weihnachten 1962 stürzt er beim Schlittschuhlaufen mit der Mutter, sie schickt ihn zum Arzt. Und während er auf die Diagnose wartet, lernt er Jane Wilde kennen, die er 1965 heiraten wird. Glück und Unglück kommen sehr brutal zusammen.
Im ersten Moment gibt sich der Todgeweihte seinen Depressionen hin, vergräbt sich in seiner Wohnung, hört Richard Wagners schwermütige Musik. Was für einen Wert soll es jetzt noch haben, seine Dissertation fertigzuschreiben? Jane fühlt sich zu ihm hingezogen, er fasst neuen Mut. «Er war ungeheuer entschlossen, sehr ehrgeizig», sagt sie später. Jeder neuen Drehung in der Abwärtsspirale seiner Erkrankung wird er mit dieser Entschlossenheit begegnen, während sein Weg in der Wissenschaft steil nach oben führt. Mit 37 wird er in Cambridge auf jenen Lehrstuhl berufen, den einst Isaac Newton besetzt hat. Im selben Jahr kommt das zweite Kind des Paars zur Welt.
Dass ihn Astronomie und Physik von Anfang an mehr theoretisch als praktisch interessieren, erweist sich angesichts seiner zunehmenden Gebrechlichkeit als enormer Vorteil. Angeblich hat Stephen Hawking selber nicht mehr als ein halbes Dutzend Mal durch ein Teleskop geschaut. Das Weltall interessiert ihn auf andere Weise. Dass er über ein vorzügliches Gedächtnis verfügt, kommt ihm zugute, als er weder handschriftlich noch mit der Schreibmaschine arbeiten kann. Sein Büro wird zum Treffpunkt für Wissenschafter aus aller Welt, und das Haus der Hawkings gilt unter Freunden als ein fröhlicher Ort, an dem immer etwas los ist. Allerdings steht Jane auch unter einem grossen Druck. Sie ist seine Ehefrau und Krankenschwester zugleich und häufig am Rande der Erschöpfung. Bis beide auf die Idee kommen, sie könnten jeweils einen von Stephens Doktoranden bei sich wohnen lassen, der seinem Doktorvater beim Zubettgehen und Aufstehen assistieren muss.
Unter Fachkollegen ist Stephen Hawking längst eine Berühmtheit, auch wenn manche sein scharfer Verstand und seine direkte Art auch befremdet. Da tritt sein Verleger bei der Cambridge University Press an ihn heran mit der Bitte, er könnte doch ein allgemein verständliches Buch zur Kosmologie schreiben. Hawking will Geld, seine Tochter soll auf eine Privatschule gehen. Der Verleger bietet 10 000 Pfund, doch mittlerweile hat der Lektor des amerikanischen Bantam-Verlags davon gehört. Er verschafft Hawking einen Vorschuss von 250 000 Dollar – und viel Arbeit. Denn immer wieder schickt er lange Listen von Fragen und zwingt den Physiker, seine Ideen einfach und verständlich darzulegen. «Eine kurze Geschichte der Zeit» wird zu einem fulminanten Erfolg, sein Autor ist jetzt endgültig eine lebende Legende. Doch bevor das Werk getan ist, findet man ihn bei einem Aufenthalt am Atomforschungszentrum Cern bei Genf in einem Zustand akuter Lebensgefahr. Eine Lungenentzündung lässt ihn beinahe ersticken. Überleben kann er nur dank eines Luftröhrenschnitts, der ihn seiner Stimme beraubt. Doch wie ihm früher der Rollstuhl eine neue Form von Beweglichkeit verliehen hat – Hawking kann sogar tanzen mit dem Rollstuhl –, so bringt auch diesmal die Technik Rettung. Ein Computerprogramm namens «Equalizer» erlaubt ihm, sich verständlich zu machen. Von persönlichen Krisen ist er aber auch danach nicht frei. 1990 lässt sich das Paar scheiden, fünf Jahre später heiratet er seine Pflegerin, von der er sich 2006 wieder scheiden lässt.
Die Faszination, die von diesem Menschen ausgeht, entsteht nicht nur aus der Diskrepanz zwischen körperlichem Niedergang und geistigem Höhenflug. Sondern auch daraus, dass Hawking sich mit den wahrhaft grossen Fragen beschäftigt. 1981 ist Hawking bei Papst Johannes Paul II. zu einer Kosmologiekonferenz eingeladen. Der Papst geht auf die Knie, um den Mann im Rollstuhl besser verstehen zu können. Ob Hawking bei dieser Gelegenheit erklärt hat, woran er glaubt, ist nicht überliefert. «Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott», sagt er in einem Gespräch mit dem «Spiegel». Und weiter: «Wenn Sie wollen, können Sie sagen, Gott sei die Verkörperung der physikalischen Gesetze. Aber das ist nur verwirrend, da die meisten Menschen das Wort Gott mit einem Wesen verbinden, zu dem man eine persönliche Beziehung haben kann. Die Gesetze der Physik aber haben wenig Persönliches an sich.»