Notstand wegen «Cleopatra»

Schwere Unwetter mit Starkregen haben in Sardinien 16 Todesopfer gefordert und Milliardenschäden verursacht. Ganze Städte standen unter Wasser; die Regierung von Enrico Letta hat den Notstand verhängt.

Dominik Straub/Rom
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Ein Lastwagen und ein Bus bleiben wegen der grossen Wassermengen in einem Tunnel in der Nähe von Olbia stecken. (Bild: ap/Massimo Locci)

Ein Lastwagen und ein Bus bleiben wegen der grossen Wassermengen in einem Tunnel in der Nähe von Olbia stecken. (Bild: ap/Massimo Locci)

Die Schlechtwetterfront Cleopatra hatte Sardinien am Montagnachmittag erreicht. Bis am Dienstagmorgen sind in der Region von Olbia bis zu 450 Liter Regen pro Quadratmeter niedergegangen. Das entspricht der Hälfte der Regenmenge, die sonst durchschnittlich während eines ganzen Jahres auf Sardinien niedergeht. «Solchen Wassermengen hält kein Territorium stand», sagte Italiens Zivilschutzchef Franco Gabrielli in Olbia. Sardiniens Regionalpräsident Ugo Cappellacci sprach gar von einer «Jahrtausendflut».

Schon am Montagabend hatten die Retter neun Tote geborgen; gestern Dienstag erhöhte sich die Zahl der Todesopfer auf 16. Am schwersten betroffen war die Ostküste und besonders das Gebiet rund um Olbia, wo allein 13 Menschen in den Fluten umkamen; der grösste Teil des 55 000 Einwohner zählenden Hafen- und Touristenstädtchens stand gestern zwei bis drei Meter unter Wasser. «Unsere Stadt ist schiffbar», erklärte Olbias Bürgermeister Gianni Giovannelli mit einem Anflug von Galgenhumor. Allein in Olbia mussten 2500 Menschen aus ihren Wohnungen evakuiert werden. Insgesamt sind laut Giovannelli 20 000 seiner Mitbürger von den Unwettern betroffen. In die Spitäler wurden Dutzende von Verletzten eingeliefert.

Wie eine Wand aus Wasser

Auch andernorts fielen auf Sardinien laut Zivilschutzchef Gabrielli gewaltige Niederschlagsmengen: Je nach Region zeigten die Regenmesser gestern morgen 150 bis 250 Millimeter. Praktisch die ganze Insel wurde ins Chaos gestürzt: Bäche und Flüsse verwandelten sich in reissende, braune Ströme, Sturzfluten spülten Autos und Busse weg, Strassen und Bahngeleise wurden unterspült, Brücken stürzten ein, Erdrutsche lösten sich. Viele Ortschaften wurden von der Aussenwelt abgeschnitten; mehrere Städte waren stundenlang ohne Strom. Flüge, Fähren und Züge verspäteten sich oder fielen ganz aus. «Der Regen war so stark, dass er wie eine Wand aus Wasser wirkte», berichtete ein Feuerwehrmann aus der Ortschaft Uras bei Oristano. In dem Ort waren gleich mehrere Bäche aus dem Gebiet des Monte Arci über die Ufer getreten.

Retter auf Schlauchbooten

Die Rettungsmannschaften von Zivilschutz und Feuerwehr hatten wegen der prekären Verkehrsverhältnisse oft grosse Mühe, überhaupt in die Katastrophengebiete vorzudringen; in Olbia benutzten die Retter Schlauchboote für ihre Einsätze in der Stadt. Auch das Militär stand im Einsatz. Ein 44jähriger Polizeibeamter und Vater zweier Kinder, der zusammen mit drei Kollegen auf einer Überlandstrasse eine Ambulanz eskortierte, kam ums Leben, als unter dem Geländefahrzeug eine Brücke einstürzte. Die drei anderen Beamten überlebten schwer verletzt. Ähnliche Unfälle ereigneten sich auch in anderen Gebieten: In einem Vorort von Olbia wurde eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter in einem Kleinwagen von den Fluten mitgerissen. Beide ertranken. Drei Personen starben beim Einsturz einer Brücke auf der Strasse zwischen Olbia und Tempio.

Während der Zivilschutzchef und der Regionalpräsident die Rettungseinsätze vor Ort koordinierten, rief Ministerpräsident Enrico Letta an einer Sondersitzung der Regierung den Notstand aus. Als Sofortmassnahme wurden für das Krisengebiet 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Letta bezeichnete die Überschwemmungen als «nationale Tragödie». Der Staat werde alles unternehmen, um die betroffenen Familien zu unterstützen. Der Premier kündigte an, demnächst selber in das Katastrophengebiet zu reisen.

Der Regen hält an

Noch ist das ganze Ausmass der Schäden nicht abschätzbar – auch deshalb nicht, weil es gestern in ganz Italien nach wie vor regnete und auch die Aussichten für die nächsten Tage keine wesentliche Besserung versprechen. Insgesamt dürften sich die von «Cleopatra» verursachten Schäden aber in Milliardenhöhe bewegen.