Belles Lettres
Diese Geschichte sollte jemand erzählen, der im Stande sei, eiskalt zu bleiben. So fordert es die Hauptfigur im 1991 erschienenen Roman «Hotel Baalbek». Der junge, noch lebensunerfahrene Mann ist vor den Nazis geflüchtet und in Marseille gestrandet. In einem drittklassigen Hotel hat er im Juli 1942 Unterschlupf gefunden, zusammen mit anderen jüdischen Emigranten, die auf eine Fluchtmöglichkeit nach Amerika warten, die wissen: «Marseille war sozusagen eine noch offene Hintertür Europas.»
Die Geschichte handelt also von menschlichem Elend, von Verfolgung, Abgründen, Konzentrationslagern. Der Wiener Autor Fred Wander (1917–2006) schildert das schonungslos – aber eiskalt, nein, das bleibt er nicht. In grossartigem Erzählton führt er vielmehr ein in den Kosmos jenes flirrend heissen Sommers in Marseille, beschreibt die Stadt als «lebendig, lachend und gleichgültig, im Verrecken schön». Beschreibt das Leben als Komödie «auf einer fantastisch gut gebauten Szene, aber schlecht gespielt, viel zu dick aufgetragen (...), miserable Regiearbeit». Was für ein Lebenshunger in all dem Elend, welche Liebeslust in Zeiten des Hasses, welche Wärme in der Kälte: Bei Wander funktioniert das. Er war selbst ein Davongekommener, interniert in Frankreich, Auschwitz und Buchenwald entkommen.
Beda Hanimann
Fred Wander: Hotel Baalbek, dtv