In Carole Fives’ «Eine Frau am Telefon» quatscht Mutter Charlène ihre Tochter in Grund und Boden. Ein bitterer, ein bitterböser Spass.
Wer Audiodateien bearbeitet, kann aus den Tondokumenten einzelne Bausteine herausschneiden und einzeln abspielen. Carole Fives’ Buch «Eine Frau am Telefon» ist nach diesem Prinzip gearbeitet: Die Aufzeichnungen der Gespräche beginnen irgendwann, und sie enden irgendwann. Aber es ist klar, dass sie schon vor dem Anfang andauerten und dass sie auch nach dem Ende weiter gehen werden. Bis dass der Tod sie scheidet, diese Mutter Charlène und ihre erwachsene Tochter, die die Telefonschnur dauerhaft verbindet.
Die Tochter bleibt namenlos und kommt auch nicht zu Wort. Zu lesen gibt es nur Charlènes Part – und Charlène redet und redet und redet. Manchmal – selten – stellt sie ihrer Tochter Fragen, aber schon die Antworten interessieren sie meist nicht mehr. Sie interessiert sich ohnehin nur für ihr eigenes Leben.
Carole Fives hat mit «La Femme au Téléphone» spritzige, locker geschriebene Monologschnipsel verfasst, die sich auf den ersten Blick komisch, auf den zweiten sehr oft traurig und verzweifelt lesen. Gekonnt lässt Fives die Mutter erst das eine, kurz danach dessen genaues Gegenteil erzählen, rasend schnell führt Charlène ihre eigenen Aussagen ad absurdum oder straft sie selbst Lügen.
Denn ob Charlène von ihren Männern redet, ihren Krankheiten, ihren wenigen Freundinnen, immer nur kreist sie um eine leere Mitte, um Trauer über das vergangene, vermasselte Leben: Eine lieblose Jugend, eine Flucht in die viel zu frühe Heirat, zu schnelles Kinderkriegen. Diese Frau hat einfach auf der ganzen Linie den Eindruck, zu kurz gekommen zu sein. Und immer noch meint es das Leben nicht gut mit Charlène. Sie bekommt Krebs und verfällt darüber in eine Depression. Sie ist fast unfähig, Freundschaften zu führen, und ganz unfähig, Beziehungen einzugehen, und daher oft allein.
Umso verzweifelter sucht sie einen neuen Mann, mit dem diesmal alles klappen soll. Und stöbert dafür tage- und nächtelang auf den Suchbörsen des Internet herum. Alle Schamgrenzen überschreitend lässt sie ihre Tochter an der Auswahl der Kandidaten, den kurzen Höhenflügen, den harten Abstürzen teilhaben. Der eine ist zu jung, der andere zu alt, einer antwortet zu schnell auf die Anzeige, der andere zu langsam. Charlène ist wählerisch.
In Wahrheit will sie bedient werden, umworben, will nehmen, nehmen, nehmen. Aber nicht geben. Prominentestes Opfer dieser Einbahnstrasse: Die Tochter, mit der sie eine Hass-Liebe verbindet, weil sie sie braucht – schon allein für die Anrufe mehrmals täglich –, auf deren Jugend, deren Erfolg, deren spätes Glück in der Liebe sie neidisch ist. Bei der Tochter lädt sie all den Abfall, den Frust, die Verzweiflung ab. Und wehe, die Tochter hat gerade etwas anderes vor.
Es ist ein komisches, gleichzeitig über weite Strecken bitteres Buch, das Carole Fives da geschrieben und Anne Braun adäquat aus dem Französischen übersetzt hat. «Ich muss meine Mutter nicht anrufen, sie ruft mich an – dreimal am Tag!», hat Fives selbst erklärt. Man kann nur hoffen, dass sie für ihr Werk die Realität kräftig übertrieben hat.
Valeria Heintges