Kein Herz für psychisch Erkrankte

Die Schweiz unternimmt zu wenig, um psychisch Erkrankte in die Arbeitswelt einzugliedern. Das geht aus einem Bericht der OECD hervor. Dabei kann gerade der Job bei der Genesung eine wichtige Rolle spielen.

Diana Bula
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Wenn die Psyche streikt: Menschen mit solchen Problemen haben es in der Schweiz zu schwer, in die Berufswelt zurückzukehren, sagt die OECD. (Bild: ky/Gaëtan Bally)

Wenn die Psyche streikt: Menschen mit solchen Problemen haben es in der Schweiz zu schwer, in die Berufswelt zurückzukehren, sagt die OECD. (Bild: ky/Gaëtan Bally)

Der Mann, der soeben vorbeigegangen ist, hat geredet. Nur war keiner bei ihm, mit dem er hätte reden können. Selbstgespräche. In solchen Momenten reagieren Passanten unterschiedlich: Einige schauen den Mann verängstigt an, andere senken ihren Blick und huschen vorbei, eine dritte Gruppe weicht aus. Fast so, als sei der Mann ansteckend. Psychisch Kranke werden nach wie vor oft stigmatisiert, als unheimlich oder unberechenbar.

Das ist einer der Gründe, weshalb Menschen mit psychischer Behinderung seltener in die Arbeitswelt eingebunden werden als Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland und Mitautor des OECD-Berichts «Psychische Gesundheit und Beschäftigung: Schweiz» bestätigt: «Psychisch Kranke sind häufig arbeitsfähig. Aber die Arbeitgeber haben Angst, sie anzustellen. Die Betroffenen können ein paar gute Tage haben, dann wieder ein paar schlechte. Sie sind vielen zu unkonstant.» Das, obwohl die IV im Rahmen von Integrationsmassnahmen einen Teil des Lohnes übernehmen würde, um das Kostenrisiko für Firmen zu senken. Kommt hinzu, dass man Mitarbeitern mit psychischer Erkrankung das Leiden nicht ansieht. Ein Mitarbeiter im Rollstuhl dagegen macht das soziale Engagement einer Firma sofort deutlich.

Ein Prozent schafft Ausstieg

Laut OECD-Bericht machen die psychisch Erkrankten unter den Invalidenrentebezügern jene Gruppe aus, die in den vergangenen Jahren am stärksten gewachsen ist. In Zahlen: Von 235 000 IV-Rentnern sind 100 000 psychisch krank. Besonders deutlich war der Anstieg bei den 18- bis 25-Jährigen – auch wenn es sich zahlenmässig um eine kleine Gruppe handelt. Als «besonders dramatisch» bezeichnet Baer diese Tatsache. Denn: «Wenn man die Rente erst mal erhält, kommt man kaum mehr davon los. Nur ein Prozent der Bezüger schafft pro Jahr den Ausstieg.» Die 6. IV-Revision sieht vor, bis 2017 17 000 IV-Bezüger wiedereinzugliedern, darunter zahlreiche psychisch Kranke. «Die Bestimmung ist seit 2012 in Kraft. Man muss abwarten, ob es gelingt. Die bisherigen Erfahrungen in der Praxis stimmen allerdings skeptisch», sagt Baer. Die OECD verdeutlicht in ihrem Bericht: «Behandlungen, mit dem Ziel, den Betroffenen bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu helfen, sind in der Schweiz nicht sehr verbreitet.»

Die IV, die Arbeitslosenversicherung, die Arbeitgeber und die Mediziner müssten in Zukunft verstärkt zusammenarbeiten, empfiehlt Baer. Viele Ärzte würden die Stellenlosigkeit der Patienten jedoch zu wenig beachten. «Sie sehen in der Arbeit eher eine Stressquelle als eine Bereicherung, die zur Heilung beiträgt.» Studien belegen nämlich, dass sich positives Feedback und soziale Kontakte am Arbeitsplatz günstig auf die Psyche auswirken. Auch lenkt eine Beschäftigung vom Leiden ab. «Die Ärzte befassen sich nicht aus Prinzip zu wenig mit dem Thema. Viele fühlen sich im Umgang mit Arbeitgebern wohl einfach hilflos», sagt Baer – und fordert, dass die ärztliche Ausbildung um diesen Punkt erweitert wird.

Weit weg von der Arbeitswelt

Doch auch den Arbeitgebern rät Baer zu Verbesserungen: «Sie merken zwar oft, dass mit einem Mitarbeiter etwas nicht stimmt, handeln aber meist viel zu spät.» Mit früher Beratung – etwa durch die Psychiatrischen Dienste oder die IV – lasse sich das ändern. Heute können Menschen mit psychischer Erkrankung nach einer Krise mit einem geringen Pensum von zwei Stunden bereits wieder einsteigen. «Allerdings arbeiten sie meist in einer geschützten Werkstätte. Von dort gelingt es nur wenigen, in einen regulären Job zu wechseln. Die IV ist noch zu weit weg von der reellen Arbeitswelt.»

In der Psychiatrischen Klinik Wil lassen sich 1500 Personen jährlich stationär behandeln. Die Mehrheit davon arbeitet nicht mehr. Ein Drittel will zurück in den Beruf, wie Chefarzt Thomas Maier sagt. Deshalb gibt das Personal nicht nur Medikamente ab und verordnet Psychotherapien. «Wir reden auch mit Arbeitgebern», sagt Maier. Lässt sich das Pensum reduzieren oder die Aufgabe der Verfassung des Betroffenen anpassen? Kann er intern die Stelle wechseln? Oft seien die Arbeitgeber jedoch nicht bereit zu solchen Kompromissen, so Maier. Hat der Patient seinen Beruf bereits aufgegeben, hilft ihm das Klinikpersonal, Bewerbungen zu schreiben, und begleitet ihn zum Berufsberater.

«Zu hektisch für Patienten»

Auch mit dieser Hilfe ist es für psychisch Kranke aber nicht einfach, eine Stelle zu finden: Die heutige Arbeitswelt ist hektisch, Mitarbeiter müssen stets mehr leisten. «Fixe Teams mit einer klaren Hierarchie gibt es immer seltener», sagt Maier. Gängig seien hingegen Projektarbeiten, für die man sich alle paar Wochen neu bewerben und beweisen müsse. «Faktoren, die nicht gut sind für psychisch Kranke. Das ist die Kehrseite der Globalisierung und Dynamisierung», sagt Maier – und hofft, dass Wirtschaft und Psychiatrie bald vermehrt zusammenspannen. Geht es nach Maier, kann das, im Bereich der Prävention, etwa so aussehen: Die Psychiatrischen Dienste schicken regelmässig einen «Coach» bei interessierten Firmen vorbei. In einer Sprechstunde können Angestellte dann loswerden, was sie plagt.

Der Schweizerische Arbeitgeberverband hingegen fordert in einem Communiqué, dass die Massnahmen der IV-Revision 6b nun umgesetzt werden müssten. Die Vorlage hätte etwa die Beratung von Arbeitgebern und die verstärkte Eingliederung von IV-Bezügern vorgesehen. Das Parlament lehnte sie im Juni 2013 ab.