Am Ende unseres Gesprächs führt mich Christine Tresch nach unten, in die Bibliothek des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien, dessen Mitarbeiterin sie ist. «Wir verwalten auch den Nachlass von Johanna Spyri», erklärt sie.
Am Ende unseres Gesprächs führt mich Christine Tresch nach unten, in die Bibliothek des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien, dessen Mitarbeiterin sie ist. «Wir verwalten auch den Nachlass von Johanna Spyri», erklärt sie. «Das Handschriftliche lagert in der Zentralbibliothek, hier aber sammeln wir Ausgaben aus aller Welt.» Vor allem mit dem Heidi will es da kein Ende nehmen. «Heidi» auf Arabisch, «Heidi» auf Japanisch – in mittlerweile fünfzig Sprachen ist das Buch übersetzt worden.
«Heidi kam schon gut an, als der erste Teil von Johanna Spyris Buch 1880 erschien», blickt Christine Tresch zurück. «Johanna Spyri hat sich als deutschsprachige Autorin verstanden, deshalb hat sie ihr Buch in Deutschland und nicht in der Schweiz herausgebracht. Das war für Schweizer Autoren selbstverständlich in jener Zeit.»
Allerdings erklärt das in keiner Weise das damals schon grosse – und bis heute anhaltende Echo auf diese Geschichte. Dafür nennt Christine Tresch eine ganze Reihe von Gründen, die zum einen in der Figur liegen, zum andern im gesellschaftlichen Hintergrund. Der erste «Heidi»-Teil fällt in eine Zeit der Industrialisierung. Diese industrialisierte Welt steht für Heimatlosigkeit und Entwurzelung, ihr steht in Johanna Spyris Erzählung die unberührte Natur gegenüber. Genau dies macht das Doppelgesicht von «Heidi» aus. Die Probleme der Zeit erklären auch, warum zu dieser Zeit der Bergroman derart Konjunktur hat.
Dass Johanna Spyris Buch so rasch zum Bestseller geworden ist, hat sicher damit zu tun, wie stark es auf die Umbrüche der Zeit Bezug nimmt. Schon in den 1880er-Jahren wird «Heidi» ins Englische und Französische übersetzt, um die Wende zum 20. Jahrhundert 1900 liegt bereits die 19. Auflage auf Deutsch vor.
Auch die Figur des Waisenkindes ist dieser Zeit durchaus vertraut. «Sie findet sich zum Beispiel einige Jahrzehnte früher in <Oliver Twist> von Charles Dickens – einem Buben, der auf sich allein gestellt ist, mutig und unerschrocken», erzählt Christine Tresch. Selbstbewusst handelt in ihrer Welt auch Heidi, und Johanna Spyri setzt sich mit ihr deutlich vom Bild des domestizierten Kindes ab, wie es in vielen Kinderbüchern der Zeit noch gepflegt wird.
Heidis Eigenständigkeit und ihre Fähigkeit, sich unter schwierigen Umständen durchzusetzen, zuerst auf der Alp, dann in Frankfurt: Das gehört schon zum überzeitlichen Kern der Geschichte. Zeitbedingtes wird ausgeblendet, zum Beispiel, sagt Christine Tresch, «der stark religiöse Gehalt.»
Zu diesem Kern gehören noch weitere Aspekte der Geschichte. Zum Beispiel geht es darin um Heimweh, also um ein Gefühl, das nicht nur Kinder jeder Generation allzu gut kennen. Weiter gibt es eine Abenteuerkomponente, und schliesslich erzählt «Heidi» vom Wert der Freundschaft. «All diese Elemente machen <Heidi> für Kinder zu einer zeitlosen Lektüre», erklärt Christine Tresch.
Der Vorteil: «Kinder können sich sowohl mit Heidi wie mit dem Geissenpeter identifizieren. Im Heidi stecken viele Botschaften drin, die aber nicht dick aufgetragen werden.»
«Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder liebhaben», hat Johanna Spyri selber im Untertitel ihr Buch genannt. Sie hat damit den Kreis der Leser bewusst weit gezogen. Und in der Tat, erklärt Christine Tresch, ist «Heidi» nicht nur etwas für Kinder. Sondern, wie sie sagt, «ein Generationenbuch, weil es Themen aufgreift, die auch Erwachsene packen: die Verdingkinder-Problematik etwa, die Beziehung zwischen Alpöhi und Heidi oder die Spannung zwischen archaischer Alpenwelt versus Zivilisation und Bildung.»
Ein allerletztes Element: Dass das Buch zum Klassiker wird, hat nicht zuletzt mit seinen literarischen Qualitäten zu tun. «Wie Johanna Spyri nur schon den Wind, die Wolken und die Natur beschreibt, das ist schon grosse Literatur», sagt Christine Tresch.
Was derart bildkräftig daherkommt wie die Heidi-Geschichte, eignet sich auch ganz natürlich für die Illustration, für den Trickfilm und für den Film. Heidi-Bücher werden immer wieder illustriert. Besonders erfolgreich sind in den Vierzigerjahren zwei Silva-Bücher mit Bildern von Martha Pfannenschmid zum Einkleben. «Diese Bücher haben eine Auflage von einer Viertelmillion Exemplaren erreicht», schildert Christine Tresch diesen Grosserfolg.
Noch früher setzt Heidis Film-Karriere ein. Schon in den 1920er-Jahren kommt in den USA ein Heidi-Stummfilm heraus. «Im Jahrzehnt darauf spielt dann Shirley Temple das Heidi in einer stark amerikanisierten Fassung.» Zu Stil-Ikonen wurden dann 1952 und 1955 die Verfilmungen mit Heinrich Gretler. Und seither bekommt jede Generation ihr eigenes Film-Heidi serviert.
Ganz wichtig schliesslich wird in der Mitte der Siebzigerjahre eine japanische TV-Serie. «Die ersten Übersetzungen sind schon in den 1920er-Jahren via USA dorthin gelangt. Den Japanern haben es das Bergmädchen und die Darstellung der Natur besonders angetan.»
So wird das kleine Mädchen aus dem Dorf oberhalb von Maienfeld rasch zum internationalen Star und löst sich von seiner Heimat. Bis diese Schweiz das Label Heidi für sich reklamiert. «Die Figur Heidi ist heute ein Teil unseres kulturellen Erbes», zieht Christine Tresch Bilanz – «fast schon wie Wilhelm Tell».