Dichter ganz nah dran

Von Gedichtbänden und Romanen alleine lässt es sich nicht leben: Die beiden Autorinnen Vera Schindler-Wunderlich und Isabel Morf schreiben Lyrik und Prosa. Und in Bern protokollieren sie die Sitzungen der eidgenössischen Räte.

Michael Guggenheimer
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Mäuschen spielen im Nationalratssaal: Die Protokollanten der Eidgenössischen Räte verfolgen in Bern jedes gesprochene Wort und schreiben es auf. (Bild: ky)

Mäuschen spielen im Nationalratssaal: Die Protokollanten der Eidgenössischen Räte verfolgen in Bern jedes gesprochene Wort und schreiben es auf. (Bild: ky)

Von ihrem Arbeitsplatz in einem Café sieht Vera Schindler-Wunderlich die Basler Leonhardskirche und das ehemalige Gefängnis Lohnhof. Hier schreibt und überarbeitet sie mehrmals in der Woche ihre Texte, ihre Gedichte, aber auch die Protokolle. Die Lyrikerin Vera Schindler-Wunderlich, eine der diesjährigen Preisträgerinnen des Schweizer Literaturpreises, arbeitet im Bundeshaus in Bern als Lektorin und Protokollführerin.

Krimis hier, Protokolle da

Isabel Morf kann das Busdepot Zürich-Hardau und den Schlachthof der Stadt von ihrem Balkon aus sehen. Im Wohn-/Esszimmer unter dem Schrägdach schreibt sie an ihrem persönlichen Laptop Krimis und an einem bundeseigenen Protokolle für das «Amtliche Bulletin der Bundesversammlung». Demnächst erscheint im Gmeiner-Verlag ihr vierter Krimi, Protokollführerin ist sie seit 15 Jahren.

27 Protokollschreiber verfolgen die Debatten in den beiden eidgenössischen Räten sowie in den Parlamentskommissionen, 20 Deutsch- und 7 Französischsprechende. Sechs von ihnen sind literarisch tätig (siehe Kasten). Als sich Vera Schindler-Wunderlich im Herbst 2005 nach einer neuen Arbeit umsieht, hört sie, dass Schriftsteller Jürgen Theobaldy im Parlament in Teilzeit als Protokollschreiber tätig ist. Daraufhin bewirbt auch sie sich beim Bund um eine ähnliche Stelle.

«Ich wollte nicht wieder bei einem Verlag als Lektorin arbeiten, sondern auf einer Sprachebene, die meine Arbeit als Lyrikerin nicht konkurrenziert, sondern eine Spannung dazu erzeugt», sagt sie. Im Internet kann zwar jeder die Protokolle von National- und Ständerat schon kurz nach den Sitzungen lesen, aber die Protokollanten kennt kaum einer.

Nur ein Mitarbeiter des «Amtlichen Bulletins der Bundesversammlung» ist während der Sitzungen im Nationalratssaal zu sehen. Die Protokollanten verfolgen das Gesagte an Bildschirmen. Der Mitarbeiter im Saal, genannt Cutter, hat die Aufgabe, den Redefluss der Parlamentarier in Stücke von etwa drei Minuten Dauer elektronisch zu zerschneiden. Diese Abschnitte leitet er den Protokollanten weiter. Vera Schindler-Wunderlich und Isabel Morf sitzen im Bundeshaus an ihren Notebooks, die die Debatten zeitverschoben akustisch speichern. Sie verarbeiten Teilstücke der Debatte auf ihrem Bildschirm, während andere Protokollanten an anderen Textstücken arbeiten.

Anders in den Sitzungen der Kommissionen: Hier folgen zwei Protokollführer der gesamten Beratung, je einer verfolgt die Voten in deutscher, ein anderer die in französischer Sprache. Bis zu 25 Teilnehmer können einer Kommission des Nationalrats angehören, bei denen des Ständerats sind es etwa 13.

Während ihr Notebook die Kommissionsberatungen akustisch aufzeichnet, verfasst Vera Schindler-Wunderlich bereits erste Protokolltexte am Bildschirm. Öfter aber lektoriert sie Nationalrats- und Ständeratsprotokolle zu Hause, nicht selten morgens im Café mit Aussicht auf die Basler Altstadt. «Wir werden bei allen Sachgeschäften eingesetzt – ob es nun um Steuern geht, Tunnel, Panzer, Abgase, um das Budget, den Schweizer Wald oder um internationale Vereinbarungen», erzählt Vera Schindler-Wunderlich.

Und Isabel Morf ergänzt: «Ich habe mich in den 15 Jahren, in denen ich diese Arbeit mache, spezialisiert. Immer wieder protokolliere ich Sitzungen der Staatspolitischen Kommission, folge Verhandlungen in den Bereichen Verkehr und Fernmeldewesen. Aber grundsätzlich verfolgen wir Sitzungen zu allen Themen, die im Parlament behandelt werden.»

Isabel Morf und Vera Schindler-Wunderlich müssen immer sehr genau zuhören. «Es gibt Parlamentarier, die ihre Reden zu Hause vorbereiten, sie ablesen», erzählt Vera Schindler-Wunderlich. «Andere sprechen frei, was manchmal die Arbeit etwas erschwert. Beim Schreiben und Lektorieren müssen wir grammatikalische Fehler zurechtrücken, manchmal gehen Sätze beim nochmaligen Zuhören nicht wirklich auf. Dann müssen wir sie etwas umformulieren. Die Mitglieder der beiden Räte können aber recht rasch schon eine erste Version des Protokolls im Netz lesen und auf Papier Korrekturen einreichen.»

Vera Schindler-Wunderlich ist eine aufmerksame Sammlerin von Wortkreationen und Formulierungen. Während eines Gesprächs notiert sie sich Worte oder eine Wendung ihres Gegenübers. In den Sitzungen des Parlaments sind ihr schon viele, sehr viele Formulierungen aufgefallen, die sie auch in ihren Gedichten verarbeitet hat. «Wir sind alle dem Dienstgeheimnis unterstellt», sagt sie. «Dennoch kann im Parlament Gesagtes ein Gedicht auslösen, kann ein Begriff aus der Politik in einem Gedicht Verwendung finden.»

Inspiration von den Politikern

An ihrem früheren Arbeitsort, der Erziehungsdirektion des Kantons Bern, hat sie schon Gedichte komponiert, die aus Vokabeln der Verwaltungssprache entstanden sind. «Dies ist ein Abstandszimmer im Freien» lautet der Titel ihres prämierten Gedichtbands. Das Wort «Abstandszimmer» hat sie bei einem Jahresausflug der Protokollschreiber im Regierungsgebäude in St. Gallen entdeckt. Dort heisst ein Pausenraum des Grossen Rats wirklich Abstandszimmer.

Michael Guggenheimer moderiert die Preisträger des diesjährigen Schweizer Literaturpreises Vera Schindler-Wunderlich und Urs Allemann morgen, 27.2., 19 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen.

Isabel Morf in ihrem Zürcher Arbeitszimmer (links), Vera Schindler-Wunderlich im «Arbeits»-Café in Basel. (Bilder: Michael Guggenheimer)

Isabel Morf in ihrem Zürcher Arbeitszimmer (links), Vera Schindler-Wunderlich im «Arbeits»-Café in Basel. (Bilder: Michael Guggenheimer)