Die Natur erfriert, der Himmel wird nicht mehr hell und der Mensch nicht mehr froh: Der Winter fordert uns heraus. Was tun, wenn Kerzen und Schokoladen nichts mehr nützen? Die Dänen fragen.
Katja Fischer De Santi
Dies sollte eine Hymne werden auf den Winter. Auf die stille, dunkle Jahreszeit. Auf den ersten richtigen Schnee, das warme Licht der Kerzen. Ein Widerwort an all die Jammerer, für die mit dem letzten farbigen Herbstblatt auch die Stimmung unter den Gefrierpunkt sinkt. Doch daraus wird nichts werden. Die Nase tropft, der dicke Schal kratzt am Hals, draussen wird es den ganzen Tag nicht mehr richtig hell. Der Winter kann mich mal!
«Der Winter versteinert das Wasser des Himmels und das Herz der Menschen», schrieb schon Victor Hugo in «Les Misérables». Eine halbe Seite lästert er über die Jahreszeit «ohne Wärme, ohne Licht.[...] Der Himmel lässt nicht mehr Licht hindurch als ein Kellerfenster in ein Souterrain.»
Der Winter, er setzt uns zu. Im 19. Jahrhundert Victor Hugos zugegebenermassen mehr als heute. Wahrscheinlich war er es, der aus uns einstiger Affenhorde eine Zivilisationsgesellschaft gemacht hat. Denn im Winter, da geht es um alles. Kein Feuerholz für die Heizung gesammelt, keine Vorräte angelegt, das Dach nicht abgedichtet, die Tiere nicht gut versorgt und schon herrschte die Seuche, der Hunger, der Tod.
Heute müssen wir im Winter nicht mehr Hunger und Tod fürchten, heute sucht uns die Winterdepression heim.
Rund zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung soll, sobald das Licht weniger und die Luft kälter wird, depressive Phasen durchmachen. Der Mensch, er wird im Winter auf sich selbst zurückgeworfen. Das ist nicht immer schön. Der Ausflüchte sind da plötzlich weniger. Das Gelärme des Sommers bebt ab, die Farben verblassen, zurück bleiben wir; wie wir in kratzigen Wollpullis in überheizten Wohnungen sitzen. Der Teint wird fahl, und wenn die Meteorologen jeden Abend von überfrierender Nässe warnen und Hochnebel ankündigen, dann wünsch ich mir, zur Spezies der Winterschläfer zu gehören.
Aber der Mensch wäre nicht Mensch, wenn er nicht Mittel gefunden hätte, gegen diesen Winter anzukommen. Zentralheizung und Netflix-Abo sind schon sehr hilfreich. Einige gute Romane auf dem Nachttischlein sind unentbehrlich. Der Kampf gegen die dunkle Jahreszeit nimmt aber teils absurde Züge an, wenn in der Nachbarschaft schon Mitte November die Weihnachtsbeleuchtung zu blinken beginnt.
Doch ist es nicht ungemein umsichtig vom Heiland, dass er just dann, wenn sich bei uns Dunkelheit und Depressionsanfälligkeit dem Höhepunkt zuneigen, entschloss, auf die Welt zu kommen? Man will sich gar nicht vorstellen, wie man die Kindeskinder ohne Adventskalender, Samichlaus und Zimtsterne durch den Dezember bringen würde. Weihnachten, das ist die grosse westliche Kampfansage an den Winter. Die Fasnacht, das ist dann die närrische Freude daran, es bald überstanden zu haben.
Wie man es ganz ohne Religion und uralte Riten durch den Winter schafft, zeigt ein Blick gen Norden. Zu den Dänen, denn die kennen sich mit der Kälte aus. «Die Dänen sind einfach nicht bereit, sich vom Wetter oder irgendwelchen Naturgesetzen ihr emotionales Wohlbefinden diktieren zu lassen», sagt Meik Wiking. Er muss es wissen. Wiking ist Däne und Leiter des Kopenhagener Instituts für Glücksforschung. In den internationalen Glücks-Rankings schneidet Dänemark immer wieder sehr gut ab, für Wiking der Beweis, dass man das Glücklichsein von seinem Volk lernen kann – gerade auch im Winter. Der Weg dort-hin führt aus seiner Sicht über «Hygge». Was übersetzt so viel wie Gemütlichkeit bedeutet und als Trend bezeichnet werden muss. Die halbe Welt will von Dänemark lernen, wie man es sich gemütlich macht im Winter. Wie man das Licht richtig dimmt und die Aussenwelt dämpft. Literweise wird heisse Schokolade aus lustigen Tassen getrunken mit viel Rahm dazu – hygge. Zimtschnecken werden gebacken, während Fleischstücke besonders lange im Tontopf schmoren – hygge. Dicke Wollsocken werden trotz Fussbodenheizung angezogen und überall Kerzen aufgestellt – super, extra hygge.
Hab ich alles auch schon probiert, funktioniert für den Moment. Doch dann schau ich aus dem Fenster, sehe, wie die kahlen Bäume ihr Äste gen dunkelgrauen Himmel recken, während drinnen der Kerzenwachs auf den Parkett tropft. Von der heissen Schokolade wird mir schlecht und schon wieder Rotwein kann ja auch nicht die Lösung sein. Also braucht es wohl noch eine weitere Lektion von Hygge-Meister Meik Wiking. Seine Kernbotschaft lautet: Zusammensein und in Erlebnissen schwelgen. Am besten solche, die man auch wirklich hatte. Eislaufen zum Beispiel oder Schneeschuhwandern. Das raten auch hiesige Ärzte: eine Stunde an der frischen Luft sei die beste Prävention gegen die drohende Winterdepression.
Also nix wie raus. Bis die ganze Familie eingepackt ist, dauert es zwar, aber am See kommt tatsächlich so etwas wie gute Stimmung auf. Der Himmel reisst kurz auf, die ersten Flocken wirbeln übers Wasser. Der Steg und das Ufer sind menschenleer. Nach einigen Minuten weiss man warum. Der Wind pfeift einem um die Ohren, die Nase läuft, wir sehen unseren Atem und wollen schnell ins Warme, Kuchen essen. Kuchen ist sehr hygge. Kann man laut den Dänen fast nicht genug davon in sich hineinstopfen. Sowieso scheint essen die beste gute Medizin gegen eine drohende Winterdepression zu sein. Schokolade und Kohlenhydrate füllen nicht nur unsere Fett-, sondern auch unsere Glücksspeicher auf. Entweder dick und glücklich oder dünn und etwas trübselig. Essen ist aber nicht gleich essen, will man dem Glücksforscher glauben. Man muss sich die Gemütlichkeit schon selbst erkochen. Mit dem Pizzalieferdienst wird das nix. Besser, sich einen Vorrat an Eingelegtem zutun. Rosinen in Portwein, Holundersirup in Flaschen, Suppe im Weckglas. Sodass man, wenn die schlechte Stimmung erbarmungslos zuschlägt, sofort in den Keller steigen kann, um mit einem Glas kulinarischem Sommerglück dagegenzuhalten. Wir Schweizer haben für solche Notfälle ja auch noch das Raclette und das Fondue erfunden. Andere Nationen erkennen alleine an der Tatsache, dass wir Unmengen an geschmolzenem Käse essen, wie hart unsere Winter sein müssen.
Worüber die Bücher und Glücksexperten allerdings schweigen, ist diese Langeweile, wie sie sich nach sieben kalten, nebligen Tagen einstellt. Diese gereizte Langeweile, die so gar nichts vom sommerlichen Müssiggang an sich hat. Dagegen helfen schöne Lampen nicht, da helfen keine Kerzen. Aus winterlicher Langeweile kommt das Böse, hat Søren Kierkegaard einmal geschrieben. Er war auch Däne, geboren 1813, und litt an Depressionen. Hygge war ihm wohl noch kein Begriff.