Hobbygärtnern in der Stadt ist er geliebtes Refugium, Politikern und Sportlern die Bühne für grosse Auftritte. In seinen Anfängen aber war er nicht viel mehr als schmückendes Beiwerk.
Beda Hanimann
Mit oder ohne? Die Frage ist zum wichtigsten Kriterium in der Immobilienbranche geworden. «Mit Balkon», dieser Zusatz wird in Wohnungsausschreibungen gern in halbfetten Lettern gesetzt. Anderseits heisst es oft schon in Inseraten «kein Balkon», es klingt wie Reue, eine minderwertige Wohnung anpreisen zu müssen. Oder aber es bezweckt, die Flut von Anfragen gleich am Anfang einzudämmen.
Der Balkon adelt die Wohnung, und er ist vorab in Städten der heissgeliebte Gartenersatz. Logisch also, dass die erste Anschaffung beim Bezug einer Wohnung mit Balkon der Kauf einiger Töpfe Rosmarin, Thymian und Basilikum ist. Logisch auch, dass der Balkon in den Hobbygärtner-Ratgebern eine grosse Rolle spielt. Und auch in der nächsten Mittwoch beginnenden Gartenmesse Giardina in Zürich unter dem Stichwort «Trends 2017» einen eigenen Sektor hat.
Doch der Balkon hat eine lange Vorgeschichte, die mit Gärtnern während Jahrhunderten wenig zu tun hatte. Schon auf altrömischen Wandmalereien sind Häuser mit Balkonen zu sehen. In der Architektur der Renaissance und des Barocks spielen Balkone eine wichtige Rolle, allerdings nur als schmückendes, gliederndes und repräsentatives Element ohne Funktion. Eine solche kam ihnen eher in der bäuerlichen Architektur zu, wo sie zum Trocknen und Aufbewahren von Gütern genutzt wurden.
Im Wohnungsbau begann der Balkon im 19. Jahrhundert eine Rolle zu spielen. Im Zuge der Verstädterung entstanden reihenweise grossbürgerliche Mietshäuser und Arbeitersiedlungen mit Balkonen, die den zunehmend enger aufeinander lebenden Bewohnern ein Minimum an Freiraum unter offenem Himmel garantierten, aber auch Abstellfläche ausserhalb der Wohnung boten. Ein klassisches Muster der Balkonplanung war lange die Aufteilung in einen kleinen Nutzbalkon bei der Küche zum Hinterhof und einen grösseren Wohnbalkon auf der Sonnenseite.
Diese Doppelfunktion von Nutz- und Genussraum ist dem Balkon bis heute geblieben, wie sich vor allem in grösseren Städten zeigt. Aber mehr noch: An den Balkonfassaden von Wohnsiedlungen werden zahlreiche Nuancen der Balkonbewirtschaftung sichtbar. Der Vorbau an der Fassade ist mal liebevoll begrüntes Refugium hoch über dem Pflaster der Strasse, mal Abstellraum für Kehrichtsäcke und ausrangierte Möbel. Mal wird er genutzt, um mit Peace-Flaggen oder Länderfahnen politisch und sportlich Farbe zu bekennen, mal dient er mit einer Satellitenschüssel ausgestattet als Basisstation für den Empfang von Signalen aus aller Welt.
Was unabhängig der verschiedenen Nutzungen klar ist: Der Balkon ist ein Scharnier zwischen drinnen und draussen, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Er ist ein Ort des Austauschs, wo der Kontakt zum Nachbarn oder zu Passanten am unkompliziertesten zustande kommt – aber auch ins Negative kippen kann. An der Balkongestaltung oder an dort ausgeübten Tätigkeiten (vom Grillieren bis zum Musikhören) entzünden sich wohl mindestens so häufig Nachbarstreitigkeiten wie in der legendären Waschküche.
Dass die Scharnierfunktion nicht immer klappt, dass der Balkon nicht immer der unbeschwerte Ort des Sehens und Gesehenwerdens ist, auch das zeigt sich rasch bei Rundgängen durch Wohnquartiere. Da wird das ausgeklügelte Gestaltungskonzept manches ambitionieren Architekten torpediert, indem bar jeden ästhetischen Anspruchs mit Bastvorhängen und Sperrholzplatten gebastelt wird, um unerwünschte Blicke abzuhalten. Denn nicht jeder mag seinen Balkon als das sehen, was er letztlich halt auch ist: als Bühne.
Wer die Öffentlichkeit sucht, die Blicke und die Aufmerksamkeit anderer, dem freilich verhilft ein Balkon zum grossen Auftritt. Ausserhalb des privaten Kosmos des Wohnens haben Balkone immer wieder Geschichte geschrieben. Vom Westbalkon des Deutschen Reichstages proklamierte Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste deutsche Republik. Eva Perón, die Frau des argentinischen Präsidenten Juan Perón, rief das Volk vom Balkon der Casa Rosada, des Regierungsgebäudes in Buenos Aires, dazu auf, dem Land und ihrem Mann treu zu bleiben. Václav Havel wählte am 29. Dezember 1989 den Balkon der Prager Burg, um dem Volk für die Samtene Revolution zu danken. Und der Papst pflegt auf der Benediktionsloggia, dem berühmtesten Balkon des Vatikans, an Ostern und Weihnachten den Segen «Urbi et Orbi» zu spenden.
Aber auch weltlichere Machthaber und Würdenträger zelebrieren sich gern über den Köpfen des Volkes auf der Zinne eines Balkons. Die Fussballmanschaft, die gerade den Meistertitel errungen hat, lässt sich nach dem Abpfiff zwar auf dem Rasen feiern, die offizielle Huldigung der Fans aber nimmt sie frisch geduscht und im Anzug auf dem Balkon des Rathauses entgegen. So wird der Balkon zum Attribut der Sieger und Erfolgreichen. Womit sich der Kreis schliesst: Als glücklicher Gewinner fühlt sich auch, wer gerade eine Wohnung mit Balkon ergattert hat.