In der Ostschweizer Politik fehlen die jungen Eltern

Wer Politiker sein will und Familienmensch, der braucht Organisationstalent und viel Unterstützung. Davon können auch Ostschweizer Milizpolitiker und -politikerinnen ein Lied singen. Im Thurgau will man es ihnen ein bisschen leichter machen.

Kaspar Enz
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Die Grüne Madeleine Henfling brachte letzte Woche in der Not ihr Baby in den Landtag mit. (Bild: Mario Gentzel/Imago (Erfurt, 29. August 2018))

Die Grüne Madeleine Henfling brachte letzte Woche in der Not ihr Baby in den Landtag mit. (Bild: Mario Gentzel/Imago (Erfurt, 29. August 2018))

Dies ist ein Artikel der "Ostschweiz am Sonntag". Die ganze Ausgabe lesen Sie hier.

Milizpolitiker ist kein Job, der um sechs vorbei ist. Dann geht’s erst los, an der Parteiversammlung oder mit der Begrüssungsrede an der Jahresversammlung der Kaninchenzüchter.

Michael Götte kann ein Lied davon singen. Er ist noch keine 40, aber Gemeindepräsident in Tübach, Fraktionspräsident der SVP im St.Galler Kantonsrat und bei der IHK St. Gallen-Appenzell. Drei Kinder hat er auch, zwischen 4 und 8 Jahren. Knallharte Planung ist nötig, sagt er. Vergleichbar sei das höchstens mit einer hohen Funktion in der Wirtschaft. Das sagt er jedenfalls am Esstisch zu Hause. «Ein Thema ist das schon, bei Göttes.»

Mittwoch soll schul- und ratsfrei werden

Marina Bruggmann will das Thema angehen. Der Thurgauer Kantonsrat soll nicht mehr am Mittwoch tagen, fordert die Salmsacher SP-Kantonsrätin in einem Vorstoss. «Das ist der ungünstigste Tag», sagt die zweifache Mutter. «Da haben die Kinder nachmittags frei.» Ein guter Tag für Arzt- und Coiffeurbesuche, die Klavierstunde – ausser man sitzt an Ratssitzungen. «Mich betrifft es nicht mehr so direkt.»

Bruggmanns Kinder sind 12 und 14 Jahre alt und selbstständiger als früher. «Trotzdem war das ein Thema, als es darum ging, ob ich nachrücken soll.» Das war vor eineinhalb Jahren. Ihr Mann arbeitet nun jeweils Mittwochs von zu Hause aus. «Eine kleine Umstellung. Da ich berufstätig bin, blieb er immer einen Tag zu Hause.»

Amt schon einmal abgelehnt

Damit ist der Rücken der Milizpolitikerin noch nicht ganz frei. «Meine Schwester wohnt im gleichen Dorf, bei ihr essen die Kinder manchmal Zmittag.» Auch die Grosseltern sind nicht weit. Bruggmann ist auch Gemeinderätin in Salmsach, sie präsidiert die örtliche SP-Sektion. Dass die Milizpolitik zeitaufwendig ist, wusste sie. Vor Jahren war ein Sitz im Gemeinderat ein Thema, doch die Kinder waren klein, sie lehnte ab. Eine Entscheidung, die viele Mütter treffen würden. «Es müssten doch alle Bevölkerungsgruppen vertreten sein.»

Junge und Frauen fehlen

Das ist nicht der Fall, sagt Lineo Devecchi vom Ostschweizer Zentrum für Gemeinden an der Fachhochschule St. Gallen. Eltern gäbe es schon in der Politik. «80 Prozent der Mitglieder der Gemeinderäte sind verheiratet und haben Kinder.» Aber nur 15 Prozent der Gemeinden werden von Frauen geführt. Und die männliche Mehrheit ist über 45, die Kinder oft schon ausgeflogen. Das decke sich mit Studien über Freiwilligenarbeit. «Die 20- bis 40-Jährigen fehlen oft.»

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Politik soll für alle sein

«Alle müssten doch eine Chance haben, im Grossen Rat mitzuwirken», sagt Maja Bodenmann. Gerade Frauen oder Männer, die Betreuungsaufgaben wahrnehmen. Auch die dreifache Mutter wagte sich erst in die Politik, als die Kinder schon etwas älter waren. Nicht, dass sich Politik und Familie dann problemlos unter einen Hut bringen liessen: «Meine Schwiegereltern wohnen hier, und abends ist meist mein Mann zu Hause.»

Schliesslich sei es auch eine Frage des Masses. Aber es sei schon so, Männer würden den Schritt eher wagen. Auch weil sie sich mehr zutrauen als Frauen, sagt Bodenmann. «Ich bin erst die dritte Frau im Diessenhofer Stadtrat», sagt die CVP-Kantonsrätin. Deshalb hat sie den Vorstoss zur Verschiebung des Ratstages auch mitunterzeichnet.

Verzicht für Familie

Allerdings ist es auch im bürgerlichen Lager nicht mehr selbstverständlich, dass die Frau dem Politiker zu Hause den Rücken freischaufelt. Ist er nicht in Bern, arbeitet der Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni als Anwalt in Herisau, «drei Minuten von daheim. Ich bin schnell da, kann mit den Kindern zum Arzt oder in die Kita.» Praktisch, gerade wenn seine Frau in Zürich bei der Ar­beit ist.

Organisationstalent brauche es schon sowie eine gute Kita und die Schwiegereltern. «Zudem beschränke ich mich. Ich habe keine Lobby- oder Verbandsmandate. Einerseits, um politisch unabhängig zu sein. Andererseits, damit ich Zeit für meine Familie habe.»

Einmal die Woche zu Hause bleiben

Das ist für Michael Götte schwieriger. «Ich will einen Abend pro Woche zu Hause sein. Und dann bin ich wirklich für die Familie da», sagt er. «Diese 52 Abende sind in der Agenda eingetragen.» Eine Agenda, in der schon die Sommerferien 2019 und die Sessionen 2022 stehen. «Man muss weit voraus planen.»

Zurückstecken kann er kaum. «Ich bin mit 20 in die Politik eingestiegen, ich bin nichts anderes gewohnt. Und es wird so bleiben.» Da brauche es auch Verständnis und Flexibilität zu Hause. «Meine Frau arbeitet zum Glück als Freelancer. So kann sie sich einteilen.»

Die Rollenbilder in der Familie seien auch in der SVP-Fraktion nicht mehr die alten, sagt Götte. «Es gibt auch eine alleinerziehende Mutter. Da hab ich es im Vergleich einfach.»

Politik muss man sich leisten können

Wie schwierig es für Alleinerziehende ist, weiss Alexandra Akeret. Auch die St. Galler SP-Stadtparlamentarierin stieg erst ein, als die Kinder um die zehn Jahre alt waren. «Da können sie auch mal eine Weile alleine spielen.» Manche Dinge könnten die Politik auch für jüngere Mütter und Väter erleichtern: ein Hort neben dem Ratssaal, ein Zimmer zum Stillen.

Aber die wichtigste Frage sei eine andere. «Es geht darum, ob man sich die Politik überhaupt leisten kann», sagt die Lehrerin. «Wenn ich einen Nachmittag fehle, weil ich an die Sitzungen muss, kann ich dann nicht Schule geben.» Denn Zeit braucht nicht nur die Familie, sondern auch der Beruf. «Das bedeutet eine Einkommenseinbusse, die für manche zu schwer wiegt.» Wolle man wirklich alle Schichten in der Politik, müsste man wohl eine Art Lohn zahlen, sagt Akeret.

Berufstätige Frauen sind selten Gemeinderat

Die Dreifachbelastung, neben Politik und Kindern auch noch Geld für eine Familie verdienen zu müssen, haben tatsächlich nur wenige Politikerinnen. «Die meisten Frauen, die in den Gemeinderäten sitzen, sind nicht berufstätig», sagt Lineo Devecchi.

Wäre es für mehr Leute einfacher, Zeit für die Politik zu finden, hätte das durchaus Vorteile. «Die Frage der Nachfolge, besonders bei Ämtern in der Gemeinde, ist oft schwierig», sagt Devecchi. Bessere Kinderbetreuung ausser Haus, aber auch mehr Verständnis seitens der Arbeitgeber könnten helfen, meint Devecchi. Ideen wie die Verschiebung des Ratstags könnten weitere Schritte sein. «Ein spannender Vorschlag», sagt Devecchi.

Ob der Thurgau den kleinen Schritt wagt? Die Motion hat Mitunterzeichner von den Grünen bis zur EDU gefunden. «Ich bin gespannt auf die Argumente der Gegner», sagt Marina Bruggmann. «Da müsste schon mehr kommen als: ‹Es war schon immer so›.»