Wiler Seelsorger über grosse Verluste: «Trauernde begehen einen Weg, den sie eigentlich nicht gehen wollen»

Der Wiler Seelsorger André Böhning hilft Menschen, die einen schweren Verlust erlitten haben, ihrem Leben neue Struktur zu geben. Der Trauerexperte über den Aufbruch in ein ungewolltes Leben, Trauermodelle der Zukunft und Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

Stephanie Martina
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«Trauernden sollte auf keinen Fall aus dem Weg gegangen werden», sagt Trauerexperte André Böhning. (Symbolbild: Imago)

«Trauernden sollte auf keinen Fall aus dem Weg gegangen werden», sagt Trauerexperte André Böhning. (Symbolbild: Imago)

«Was haben wir übersehen? Was hat dich so sehr belastet?»

Fragen, die eine Thurgauer Familie vergangene Woche in der Todesanzeige für ihren 17-Jährigen Sohn nach dessen Suizid stellt. Fragen, in denen sich die Suche nach Erklärungen mit Ohnmacht, Schuldgefühlen und Vorwürfen verbindet. Fragen, die Fremden Einblick in eine Familientragödie gewähren. In anderen Todesanzeigen heisst es:

«Wir nehmen Abschied von… Die Abdankung findet am 28. November in der Friedhofkapelle Arbon statt».

Schlicht, keine Emotionen, reine Fakten (siehe Box).

Die Art, wie Hinterbliebene ihren Verlust in Todesanzeigen zum Ausdruck bringen, zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit ihrer Trauer umgehen. Jeder fühlt und zeigt sie anders, jeder formuliert sie anders.

«Trauer ist Abschiednehmen. Trauer bedeutet, zu wissen, dass jemand, der mir wichtig ist, nicht mehr da ist, aber doch nicht ganz fort. Damit umzugehen, dass eine geliebte Person physisch abwesend, aber im Herzen anwesend ist, stellt eine innere Zerreissprobe dar.»
André Böhning, Seelsorger in der Psychiatrie St.Gallen Nord. (Bild: pd)

André Böhning, Seelsorger in der Psychiatrie St.Gallen Nord. (Bild: pd)

So beschreibt André Böhning Trauer. Der katholische Seelsorger, der in der Psychiatrie St.Gallen Nord tätig ist, befasst sich seit über 15 Jahren mit dem Thema und weiss auch: Trauer ist eine gesunde, natürliche Reaktion. «Wenn ein Mensch eine so hohe Bedeutung für einen hatte, ist es völlig normal, mit Trauer auf dessen Tod zu reagieren», sagt er.

Kirchliche Rituale – ein Auslaufmodell

So individuell Trauer sein mag – mit einem haben fast alle Hinterbliebenen zu kämpfen: mit einem Gefühlschaos. Böhning vergleicht die Situation mit einem Kindermobile:

«Entfernt man bei einem Mobile ein Teilchen, gerät es aus dem Gleichgewicht. Ebenso ist es, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Alles gerät plötzlich aus den Fugen.»

Der Verlust zwinge die Angehörigen, einen neuen Weg zu begehen, den sie nicht kennen und eigentlich nicht gehen wollen. Und doch müssten sie versuchen, ihre Welt neu auszurichten – ohne das fehlende Teilchen.

Aber wie? Darauf hat André Böhning keine universale Antwort. Früher hätten kirchliche Rituale innerhalb des Dorfes die Trauernden gestützt, sagt er. Sie hätten am Jahrgedächtnis teilgenommen, als sich der Todestag das erste Mal gejährt habe, und an Allerheiligen hätten sie das Grab besucht. Diese Bräuche würden aber zunehmend in Vergessenheit geraten. Stattdessen würden Hinterbliebene ihre Trauer heutzutage individueller gestalten. Sie füllen Kisten mit Erinnerungsstücken, um jederzeit die Nähe zur verstorbenen Person spüren können, gehen in Selbsthilfegruppen und tauschen sich online mit Leidensgenossen aus.

In den vergangenen Jahren hätten sich die Trauerformen grundsätzlich verändert: Eine starke Zunahme stellt Böhning bei den Online-Trauerportalen fest. «Ich finde es schön, dass dem Trauern auf diese Weise Raum gegeben wird. Für mich stellt sich jedoch die Frage, wie gross ihr tröstender Effekt ist.» Zur Wirkung der digitalen Trauerangebote gebe es noch keine Studien.

Für Trauer gibt es keine Norm

Wie wird Trauerbewältigung aussehen, wenn künftige Generationen ins Sterbealter kommen? Findet sie nur noch online statt? Lesen wir vielleicht bald Todesanzeigen auf Facebook, Instagram und Whatsapp? Wie sehen die Trauermodelle der Zukunft aus? Dazu kann Böhning keine Prognose abgeben. Aber eine Vorliebe:

«Ich selbst bevorzuge den persönlichen Kontakt. Und ich glaube auch, dass es vielen Trauernden ebenso geht.»

Dieses physische Dasein sei für Hinterbliebene wichtig. Das Gefühl, mit dem Schmerz nicht alleine zu sein und gehalten zu werden, tue vielen gut. Böhning betont jedoch: «Wichtig ist, dass man Angehörige nicht nur die erste Zeit nach dem Todesfall unterstützt, sondern fortwährend. Trauer verändert sich aber auch mit der Zeit und dann muss man schauen, was angebracht ist.»

Für Trauernde sei es wichtig, dass sie Zeit bekämen, über ihren Schmerz und die verstorbene Person zu sprechen. Oft werde aus falscher Rücksicht nicht mehr über den Verstorbenen geredet. Das sei eher verletzend, sagt Böhning. Zudem sei es wichtig, dass Trauernden auf keinen Fall aus dem Weg gegangen werde. Auch sollte vermieden werden, die Trauernden unter Druck zu setzen. Oft würden Leute sagen: Es ist ja jetzt schon zwei Jahre her, du musst mal wieder unter die Leute gehen. «Aber», betont Böhning: «Für Trauer gibt es keine Norm, keine Gesetze, keine Regeln.»

Sehen wir uns wieder?

Trauer ist normal, individuell und braucht Zeit. Und sie braucht laut Böhning vielfach Bilder und Metaphern, um erträglicher zu werden. In seinen Therapiesitzungen macht der Trauerexperte immer wieder die Erfahrung, dass Menschen – ob religiös oder nicht – gerne daran glauben möchten, dass der Verstorbene jetzt ein Engel ist oder ein Stern am Himmel.

«Die Vorstellung, dass es der Verstorbene da, wo er jetzt ist, gut hat, wirkt tröstend.»

Trost- und Hoffnungspotential bringe vielfach auch der Glaube daran, dass man sich irgendwann wieder sehe.

Nicht selten wollen Patienten von Seelsorger André Böhning eine Antwort auf diese Fragen. In diesen Situationen versuche er den Patienten in seinen Vorstellungen zu bestärken, erklärt Böhning.

«Aber wenn ich nach meiner persönlichen Meinung gefragt werde, sage ich, dass ich glaube, dass die Verstorbenen bei Gott sind. Wo das ist, ob man es Himmel nennt oder nicht – keine Ahnung.»

Weniger Bibelverse, mehr Einblick ins Private

Seit Jahren nimmt Manuela Schönenberger für das St.Galler Tagblatt Todesanzeigen entgegen. Die 54-Jährige erklärt, was Hinterbliebenen in der heutigen Zeit bei der Gestaltung einer Todesanzeige am Herzen liegt.

Wie haben sich Todesanzeigen in den vergangenen Jahren optisch verändert?
Es kommen häufiger Farbe und Fotos zum Einsatz. Vor allem, wenn jüngere Menschen sterben, die mitten im Leben standen, haben die Angehörigen das Bedürfnis, die verstorbene Person nochmals zu zeigen. Oft wird ein Foto, das Lebensfreude ausstrahlt, als Hintergrund gewünscht. Vielfach wird auch ein Motiv gewählt, das zum Beispiel eine Leidenschaft oder ein Hobby des Verstorbenen widerspiegelt, etwa Stricknadeln oder ein Segelschiff.

Gibt es auch inhaltlich Veränderungen?
Es werden immer weniger Verse aus der Bibel gewählt. An ihre Stelle rücken stattdessen bekannte Sprüche, Gedichte oder Songtexte. Allgemein bringen sich Angehörige heutzutage häufig mit persönlichen, teils kreativeren Texten und Gestaltungsideen ein. Das Bedürfnis der Trauernden, sich in Todesanzeigen nochmals auf den Charakter des Verstorbenen zu beziehen und hervorzuheben, was ihn ausgemacht hat, ist gross.

Auf Social Media gewähren Personen teils einen tiefen Einblick in ihr Privatleben. Zeigt sich dieser Trend auch bei Todesanzeigen?
Ja. In der Tendenz geben Trauerfamilien heute gerne ein bisschen mehr von sich preis, indem sie etwa Einblick in die Todesumstände und das Leben des Verstorbenen geben. Ich denke, die Leute sind durch Social Media offener und mutiger geworden. Früher waren Todesanzeigen sachlich. Meist standen der Name des Verstorbenen drin, der Geburts- und der Todestag sowie Angaben zur Abdankung. Heute gehen die Hinterbliebenen eher etwas ins Detail, was den Todesanzeigen mehr Menschlichkeit verleiht.

Wie laufen die Kontakte mit den Trauerfamilien ab?
Man würde denken, dass es bei der Aufsetzung der Todesanzeigen zu vielen Tränen kommt. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich denke, das liegt daran, dass sich die Angehörigen vor diesem Termin sammeln. Meistens übernimmt jedoch eine Person das Sprechen, oftmals jene, die sich noch am ehesten zusammennehmen kann. Etwa Schwiegersohn oder -tochter, um die direkten Angehörigen zu entlasten.