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Ostschweiz
Wil
Zwei Kulturprojekte trugen in der Stadt Wil dazu bei, gesellschaftliche Spannungen abzubauen. Zwischen den beiden lagen 150 Jahre.
In den Jahren um den Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert gärte es in Wil sowie auch in der übrigen Schweiz. Man könnte sie als «Geburtswehen einer neuen Gesellschaftsordnung» umschreiben.
Durch Reisende und durch Flugschriften gelangten die Forderungen der Französischen Revolution bis in die Ostschweiz, und sie fanden hier Anhänger. Insbesondere der Wiler Sattlermeister Stephan Sailer war ein leidenschaftlicher Verfechter der Ansprüche nach mehr Freiheit, Mitsprache und Transparenz. Zusammen mit Gleichgesinnten bildete er die sogenannte Schützenhausfraktion, die sich am entsprechenden Ort beim Stadtweier traf.
Die Gruppe setzte eine Liste mit Begehren auf, die sie dem Rat der Stadt übergaben. Dieser wies sie als unverschämt und als ehrverletzend zurück. Sailer und seine Anhänger forderten darin etwa Einblick in die städtischen Finanzen sowie eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Ämter. Es herrsche eine Verfilzung sowie eine Vetternwirtschaft, kritisierten sie. In diesem Zusammenhang kam es im Rathaus zu einem Handgemenge.
Schliesslich wurde der Fürstabt im Hof um Vermittlung angegangen. Damit waren die Wogen vorerst geglättet. Doch die Zeit der bisherigen sehr hierarchischen Ordnung in der Schweiz war am Ablaufen. Und das enge Bündnis zwischen Kirche und staatlichen Organen entsprach nicht mehr der entsprechenden Gesellschaftsentwicklung. Ende Januar 1798 marschierten die napoleonischen Truppen ins Land ein. Fürstabt Pankraz Vorster hatte vorsorglich das Weite gesucht. Die Fürstabtei ihrerseits wurde 1805 aufgelöst.
Die erste Verfassung des neugegründeten Kantons St.Gallen fand nicht nur Zustimmung. In Wil war die Bevölkerung gespalten, die einen Bürger waren für die neue freiheitliche Gesellschaftsordnung, andere wünschten sich die ehemaligen Verhältnisse unter der Klosterherrschaft zurück. In der Folge kam es zu immer wieder aufflammenden Tumulten.
Auch in anderen Orten im Kanton brodelte es. In dieser Phase war allerdings auch eine Aufbruchstimmung festzustellen, die Textilwirtschaft in der Ostschweiz erlebte einen Aufschwung. Der Kanton seinerseits baute neue Strassen, die Mobilität nahm zu.
In jenen Jahren entstanden in der ganzen Schweiz Männerchöre. So auch in Wil, am 22. Dezember 1839 gründeten einige Sangesfreudige einen Verein mit dem erklärten Zweck der Förderung des geselligen Lebens durch Eintracht und Verbrüderung der Mitglieder unter sich. Programmatisch nannten sie ihn Harmonie.
Nationalrat und Anwalt Johann Josef Müller notierte 1840: «Jüngsthin haben sich die jungen Bürger von Wil zu einem Gesangsverein zusammengeschart und mich zum Präsidenten desselben ernannt. Es ist gute Hoffnung da, das Wyler leben dadurch freundlicher und geselliger werde als bisher.»
Vorerst lief das Chorleben mit der Anschaffung von Notenmaterial, regelmässigen Proben, Auftritten sowie gemeinsamen Ausflügen im Rahmen des Üblichen ab. Am 3. August 1843 wurde in Wil ein Sängerfest mit Chören aus der Region organisiert. Doch bereits im selben Jahr fragte man sich laut Protokoll, ob der Harmonie-Chor noch eine Zukunft habe. Das Engagement für den Verein schien zu erlahmen.
Bei der Krise scheinen politische und konfessionelle Spannungen, mitgespielt zu haben. Liberale sowie katholisch-konservative Kreise wirkten in der Schweiz als Zentrifugalkräfte, die schliesslich zu einem Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg, führten. Am 25. Dezember 1848 endete die neunjährige Geschichte des Männerchors Harmonie, er wurde aufgelöst.
Das Auflösungsjahr war zugleich die Geburt der modernen Schweiz, die das Land befriedete. Wie Phönix aus der Asche entstand bereits im November ein neuer Männerchor in Wil. Seinen Namen Concordia trägt er bis heute.
Auch 150 Jahre später kam es zu gesellschaftlichen Veränderungen
Rund 150 Jahre nach dem Männerchor Harmonie spielte die Kultur erneut eine zentrale Rolle bei anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen. Viermal organisierte der Verein Pankraz zwischen 1980 und 1985 das Wiler Altstadt Open Air Festival.
Darüber entbrannte in der Bevölkerung eine heftige Kontroverse. Die Altstadt werde zu einem Drogenumschlagplatz, wurde befürchtet und zur Gründung einer Bürgerwehr aufgerufen. In den wochenlangen Kontroversen in den Leserbriefspalten manifestierte sich auch ein Generationenkonflikt über abweichende kulturelle Bedürfnisse und Lebenseinstellungen.
Der Graben zwischen den divergierenden gesellschaftlichen Teilen in der Stadt zeigte sich auch, als eine Gruppe junger Menschen die ehemalige Löwenbräu-Brauerei auf dem Bleichplatz als alternatives Kulturzentrum forderte. Der Stadtrat reagierte auf das Begehren abschlägig und liess die Liegenschaft 1987 abreisen.
Darauf verlangte die Gruppe, die sich zum Verein Kulturlöwe zusammengeschlossen hatte, die benachbarten Garagen als Kulturlokal. Ein Volksentscheid lehnte das Projekt ab. Aus Frustration besetzten die Jugendlichen das Areal. Eine Lösung zeichnet sich ab, als der Verein Kulturlöwe die Stadtbehörde dazu bewegen konnte, einen ehemaligen Schuppen der Mittelthurgaubahn beim Getreidesilo zu mieten. In Fronarbeit wurde er zu einem Musiklokal umgebaut und 1990 in Betrieb genommen. Seit 2008 heisst die Remise Gare de Lion und ist mittlerweile ein ebenso unbestrittenes Aushängeschild des Wiler Kulturlebens wie der Männerchor Concordia.