UNRECHT: Frieda Keller – ein Frauenschicksal

Michèle Minelli hat im historischen Roman «Die Verlorene» die Geschichte einer Kindsmörderin verarbeitet. Gemeinsam mit Schauspieler Peter Höhener gab sie in der Stadtbibliothek Wil einen packenden Einblick.

Kathrin Meier-Gross
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Energisch liest der Staatsanwalt (Peter Höhener) der Kindsmörderin Frieda Keller (Michèle Minelli) Zeugenaussagen und Briefe vor und unterstellt ihr absichtliches Handeln. (Bild: Kathrin Meier-Gross)

Energisch liest der Staatsanwalt (Peter Höhener) der Kindsmörderin Frieda Keller (Michèle Minelli) Zeugenaussagen und Briefe vor und unterstellt ihr absichtliches Handeln. (Bild: Kathrin Meier-Gross)

Kathrin Meier-Gross

redaktion@wilerzeitung.ch

«Schreib, Mädchen, schreib um Himmelswillen!» Frieda, dargestellt von der Zürcher Autorin Michèle Minelli, zittert vor Verzweiflung und Einsamkeit in ihrer Zelle. Die Rollen der Männer übernimmt der Schauspieler Peter Höhener. Als Friedas Anwalt Janggen fordert er die 1904 des Mordes an ihrem kleinen Sohn Angeklagte auf, ihre Geschichte aufzuschreiben. «Wenn du etwas zu sagen hast, schreib es, jetzt!»

Michèle Minelli ist durch einen befreundeten Journalisten auf die Geschichte gestossen. In einer Schachtel hatte er ihr Prozessakten und persönliche Briefe übergeben, worauf sie zu recherchieren begann. Sie sei richtiggehend gefangen genommen worden vom Schicksal der 1879 in Bischofszell geborenen Frieda Keller, erklärt die Autorin. Frieda war von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt und geschwängert worden. Die damaligen Moralvorstellungen und die patriarchalischen Gesetze – ein verheirateter Mann konnte nicht wegen Vaterschaft verklagt werden – veranlassten die junge Frau, ihr Kind zu verheimlichen. Die ersten Lebensjahre verbrachte der kleine Ernstli in der «Kinderbewahranstalt» Tempelacker in St. Gallen. Als Frieda das Kostgeld nicht mehr aufbringen konnte, erdrosselte sie ihren Sohn und wurde bald darauf des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt.

Frauen ohne Rechte

Während also Höhener als Staatsanwalt um die Angeklagte herumtigert und ihr alle Zeugenaussagen und Briefe so auslegt, als ob sie die Tat absichtlich begangen habe, wird nach und nach die Geschichte von Frieda aufgedeckt. Szenen aus ihrer Kindheit. Vom Vater, der sie verstossen hatte. Von der Geldnot und der Scham, um Hilfe zu bitten. Und von der zarten Liebesgeschichte mit Heinrich. Frieda hatte sich kurz die Illusion gemacht, mit Heinrich und Ernstli eine Familie zu gründen. Aus verzweifelter Enttäuschung und Geldnot erdrosselt sie darauf das «totgeschwiegene» Kind. Trotz ihrem Gnadengesuch, in dem sie auf Aufforderung von Janggen ihre Geschichte aufgeschrieben hatte, wurde sie zum Tode verurteilt.

Packende Erzählung

Das Urteil wurde nach Protesten in der ganzen Schweiz zu 15 Jahren Einzelhaft umgewandelt. Ihr restliches Leben hat Frieda als gebrochene Frau verbracht. Verstorben ist sie 1942 in der Klinik Münsterlingen.

Eine Zuhörerin bekannte, dass der Roman sie zutiefst berührt habe, auch im Wissen darum, dass sich die Geschichte vor noch nicht allzu langer Zeit und in der Nähe abgespielt habe.

Die Autorin Michèle Minelli betonte, dass es wahrscheinlich noch weitere Jahrhunderte dauern werde, bis Frauen wirklich keine Mitschuld mehr an Übergriffen angelastet wird. Irène Häne, Leiterin der Stadtbibliothek Wil, sprach wohl im Namen aller Anwesenden den Dank aus für die packende Geschichte und die Darstellung durch die beiden Protagonisten.