Gritli Schmied aus Wil ist 94 Jahre alt und hat vor fünfzig Jahren beschlossen, den Ärmsten in Indien zu helfen. Bis sie 90 war, fuhr sie immer wieder nach Asien, baute Schulen, grub Brunnen und kaufte Medikamente.
Natalie Milsom
natalie.milsom@wilerzeitung.ch
Gritli Schmied sitzt am Esstisch, umgeben von Fotos, Zeichnungen und unzähligen Dankesbriefen. Ihre Wohnung in Wil ist klein und bescheiden. Nichts deutet darauf hin, was diese Frau alles geleistet hat. Sie zeigt ein Foto von einem Mann mit einem Ochsenwagen. «Und dann stand Jahre später dieser Mann vor mir mit seinem Betonmischer und umarmte mich.» Gritli Schmids Augen glänzen bei jedem Foto, das sie zeigt.
«1966 gewann ich einen Wettbewerb», beginnt sie und zeigt eine Kopie aus einer alten «Schweizer Illustrierten». «Eine vierwöchige Weltreise für zwei Personen.» Die Reise führte das Paar, das zu Hause acht Kinder hatte, nach Kalkutta und von dort ins Hinterland von Indien. Gritli Schmied war berührt von der Armut der Kinder, die auf der Strasse lebten. Sie dachte an ihre acht Kinder zu Hause. «Auch wir hatten kaum Geld, aber immerhin ein Dach über dem Kopf und genug zu essen.» Am Abend verspricht sie ihrem Mann: «Ich komme wieder hierhin zurück und helfe diesen Kindern.» Sie plant, für acht indische Kinder ein Zuhause zu finden. Ihr Mann hat viele Zweifel, «wir hatten ja auch nichts. Er sagte, dass wir uns das nicht leisten können.» Also beschloss ich, nach unserer Rückkehr abends putzen zu gehen, um damit den Kindern in Indien zu helfen. «Ich weiss noch, wie schwer es manchmal war, wenn es am Abend dunkel und kalt war, und ich aus dem Haus gehen und die Kinder zurücklassen musste. Aber dann dachte ich an die Kinder in Indien und wusste, dass ich das Richtige tue.»
Fünf Jahre lang ging sie abends putzen und legte das Geld auf ihr «Indienkonto». 1972 hatte sie genug Geld für den Flug und den Unterhalt. Sie flog nach Indien und fand in drei Wochen für acht Waisen ein Zuhause. Was sich so einfach liest, war von Mühen und Strapazen erfüllt. Dank ihres Humors und ihres Durchsetzungswillens fand sie ein Heim, dessen Leiter ihr versprach, sie über «ihre Kinder» auf dem Laufenden zu halten. Sie versprach im Gegenzug, regelmässig Geld zu schicken.
Zurück in der Schweiz ging das strenge Leben weiter, tagsüber sorgte sie für ihre acht Kinder, abends ging sie putzen und sparte alles, was sie entbehren konnten. Wenn es ihr schwerfiel, rechnete sie aus, wie viele Rupien sie für ihr Geld tauschen könnte, und machte weiter. Unterdessen hatte sich ihr Engagement herumgesprochen. Immer wieder bekam sie von Freunden und Bekannten Geld «für Indien». Und deshalb flog sie dann doch wieder ins Land. Sie lief stundenlang durch Dörfer und Slums, um die Ärmsten der Armen zu finden. Nur selten gab sie Geld. Stattdessen kaufte sie Betten, Kleider, Medikamente und Früchte, Reis und Mais.
Sie bedauerte die Kinder, die keine Schule besuchten. «Da suchte ich einen Raum und eröffnete eine Schule. Das kostete nicht viel, nur die Miete und die Löhne. Und es kamen so viele Kinder!» Es tönt so, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, eine Schule zu eröffnen und so vielen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. «Viele Leute sagen, dass man halt nichts tun könne. Aber das stimmt nicht. Wenn man wirklich möchte, kann man viel erreichen.»
Gritli Schmied lernte eine Ärztin kennen und beschloss, deren Spital in Jobat zu besuchen. Alle rieten ihr davon ab, weil die Bevölkerung dort sehr arm sei und es für Weisse viel zu gefährlich sei. Dies konnte Gritli Schmied nicht davon abhalten, im Gegenteil, es spornte sie an, und sie reiste hin. Viele Patienten waren hungrig, also suchte sie einen Koch, liess eine Feuerstelle errichten, kaufte einen grossen Topf und ernährte so die Hungrigsten. «Die Spitalleitung sah dies nicht gerne, weil dies noch mehr Hungrige anzöge.» Sie behielt recht, aber das war für Schmied kein Problem. «Ich kaufte mehr Töpfe, mehr Mais, mehr Zwiebeln und wir kochten für alle.» Das war der Anfang von ihrem Einsatz in Jobat. Sie ging immer wieder nach Jobat, baute Schulen und Altersheime, eine Schwesternschule und einen Mittagstisch für die Armen.
Sie zeigt wieder das Foto vom Mann mit dem Ochsenwagen. «Den habe ich ihm gekauft, weil er seine Hand verloren hatte und seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Jahre später stand er wieder vor mir und präsentierte mir stolz den Betonmischer, den er aus den Einnahmen vom Ochsenwagengeschäft gekauft hatte. Er war so dankbar, und ich war so stolz auf ihn.» Der Mann hatte seine Chance gepackt, seine Familie war versorgt und Gritli Schmied hat einmal mehr mit wenig Einsatz viel erreicht.
Unterdessen hat Schmied die Arbeit in der Schweiz einem Stiftungsrat übergeben, und in Jobat übernehmen Einheimische ihre Arbeit. Trotzdem steht sie immer in Kontakt mit «ihren Leuten».Sie zeigt die neusten Briefe, die sie bekommen hat und ihre Augen leuchten.