Startseite
Ostschweiz
Wil
Wer in der Öffentlichkeit einer pollenbedingten Niesattacke ausgesetzt ist, erntet in Zeiten von Corona statt Verständnis paranoide Blicke.
Unruhig rutscht der junge Herr auf seinem Sitzplatz im Zug hin und her, presst angestrengt die Lippen zusammen und reibt nervös seine Nase. Etwas Wildes tobt in ihm und wartet nur auf eine Gelegenheit, endlich auszubrechen. Er leidet, das ist offensichtlich, etwas zerreisst ihn innerlich.
Doch es ist nicht etwa die erschreckende Erkenntnis der Endlichkeit allen irdischen Daseins oder gar dessen Sinnlosigkeit, die ihm plötzlich aufgegangen ist und ihn martert. Nein, sein Leiden hat einen ganz profanen Grund: Heimtückische Pflanzenpollen, die seine Nasenschleimhaut reizen. Die alljährlich wiederkehrenden Wochen des Niesens, Schniefens und Schnupfens sind angebrochen.
Doch in diesem Jahr sind die Rahmenbedingungen ein wenig anders. Denn es schweben nicht nur Pollen durch die Lüfte, sondern mit dem Coronavirus auch ein Erreger eines ganz anderen Kalibers. Und dieser wird bekanntlich durch Niesen oder Husten übertragen, besonders in geschlossenen Räumen.
Das bringt Allergikerinnen und Allergiker immer wieder in unangenehme Situationen. Wer in der Öffentlichkeit einer pollenbedingten Niesattacke ausgesetzt ist, erntet in diesen Zeiten statt verständnisvolles Mitleid skeptische, gar paranoide Blicke, die Bände sprechen: Warum niest diese Person? Ist sie womöglich am Coronavirus erkrankt? Warum bleibt sie nicht zu Hause, sondern verbreitet niesend und hustend seine Viren?
Um vor solchen Blicken verschont zu werden, hält der Geplagte in einem fast übermenschlichen Akt der Selbstbeherrschung seinen Drang, dem Beissen in der Nase durch einen beherzten Nieser Erlösung zu verschaffen, unter Kontrolle. Ausserdem will er als guter Bürger seine Mitmenschen nicht unnötig verunsichern, weiss doch nur er, dass die Pollen schuld sind an seiner Misere – und nicht das Coronavirus.
In der Zwischenzeit steht der junge Herr aus dem Zug längst an der Türe und wartet auf die Einfahrt in den Bahnhof. Die Türe öffnet sich. Für ein paar Schritte weg von der Masse der Pendler reicht es gerade noch, bevor ihn eine Niesattacke sondergleichen beutelt und schüttelt. Sie sei ihm gegönnt.