In Wil war sie 1871 zur Welt gekommen, in Stuttgart starb sie 1910 durch die Kugel eines eifersüchtigen Liebhabers: Die Sopranistin Anna Sutter. Ihr ist die Oper «Annas Maske» am Theater St.Gallen gewidmet.
Ursula Ammann
«Er schiesst mich vor Eifersucht noch tot.» Diesen Satz soll Anna Sutter einer Bekannten anvertraut haben. Nur wenige Tage bevor man ihren leblosen Körper in ihrer Wohnung in Stuttgart fand. Die in Wil geborene Opernsängerin, die zum Star des Stuttgarter Hoftheaters avancierte, hatte zahlreiche Herzen erobert, aber ebensolche auch gebrochen. Und das traf sie buchstäblich mitten ins eigene Herz. Aloys Obrist, früherer Hofkapellmeister, verschaffte sich am Vormittag des 29. Juni 1910 Zutritt zu Anna Sutters Schlafzimmer. Sie lag noch im Bett. Dem Dienstmädchen hatte der 43-Jährige angegeben, der Sängerin Blumen überreichen zu wollen. In Tat und Wahrheit aber führte er zwei geladene Browning-Revolver mit sich, wie die NZZ berichtete. Nach einem kurzen Wortwechsel mit seiner Angebeteten schoss er dieser in die linke Brust und richtete sich danach selbst. Das Motiv: unerfüllte Liebe. Mit der Künstlerin unterhielt Obrist gemäss NZZ-Artikel eine «intime Beziehung». Von «glühender Leidenschaft erfüllt» sei er gewesen und sogar von seiner Frau habe er sich wegen der Opernsängerin getrennt. Dann aber musste er merken, dass Anna, «selbst ein ungezügeltes Temperament, ihre Gunst anderen zuwandte».
Einer, der sich intensiv mit der Geschichte von Anna Sutter befasst hat, ist Ruedi Schär, Leiter des neuen Infocenters in der Altstadt. Der Urwiler hat schon Führungen zum Thema «Frauen in Wil» gemacht und in diesem Zusammenhang viel über Anna Sutter gelesen. «Begegnet bin ich ihr leider nie», schmunzelt Schär, geboren 1952 und aufgewachsen im Hof zu Wil. Seine Bewunderung für die Opernsängerin hört man sofort. Etwa, wenn er davon erzählt, dass zu ihrer Beerdigung in Stuttgart 10000 Leute gekommen seien. «Das ist sehr aussergewöhnlich», sagt Ruedi Schär. Lange nach ihrem Tod habe ihr ein Verehrer noch Blumen aufs Grab gelegt.
«Anna Sutter hatte eine sehr schöne Stimme», sagt Ruedi Schär und verweist auf die Tonaufnahme, die im Online-Archiv der Stadt Wil (Wilnet) zu hören ist. Doch nicht nur deswegen liebte das Volk sie. Ihr ganzes Wesen war voller Anmut. Insbesondere auf Männer übte sie eine grosse Anziehungskraft aus, was nicht zuletzt daran lag, dass sie sich gelegentlich auszog. Die meisten Sängerinnen zur damaligen Zeit hatten für freizügige Szenen ein Double. Nicht so Anna Sutter. Den Schleiertanz aus Salome habe sie – sehr leicht bekleidet – selbst ausgeführt, weiss Ruedi Schär. Auch in der Rolle der Carmen brillierte sie. Nichtsahnend, dass sie einmal dasselbe Schicksal erleiden wird wie diese Hauptfigur.
Mit ihrem Liebreiz schaffte es Anna Sutter, dass die Bevölkerung ob ihres flatterhaften Lebenswandels beide Augen zudrückte. Wie die NZZ nach dem Verbrechen an Anna Sutter schrieb, «war die Verehrung so gross, dass man sogar in dem in solchen Dingen durchaus nicht grossstädtisch veranlagten Stuttgart ihr durchaus nicht makelloses Privatleben vollständig übersah». Wann immer sie die Bühne betreten habe, sei das Publikum in Jubel ausgebrochen.
Anna Sutter fasziniert bis heute. Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer widmete ihr 2006 die Novelle «Annas Maske». Am 6. Mai findet unter gleichnamigem Titel die Uraufführung einer zeitgenössischen Oper aus der Feder des St. Galler Komponisten David Philip Hefti statt. Das Stadttheater St. Gallen hat sich deshalb auf Spurensuche nach Wil begeben und einen Film darüber erstellt. Gedreht wurde unter anderem im Café La Moka, im Infocenter bei Ruedi Schär und im Stadtarchiv bei Werner Warth. Dort lagert ein Geburtenregister, in dem der Name der Künstlerin auftaucht. Sie ist am 26. November 1871 morgens um halb neun in Wil geboren worden. Ihr Vater Carl war Musikdirektor. Der zweite Eintrag zu Anna Sutter befindet sich im Niederlassungsregister. Daraus geht hervor, dass die Familie – Anna hatte noch eine jüngere Schwester namens Mathilde – 1874 weggezogen war. Mit Bleistift hat ein Zivilstandsbeamter später notiert, dass Hofsängerin Anna Sutter 1902 in München einen Knaben mit Namen Felix Gustav gebar. Ebenfalls mit Bleistift festgehalten ist ein Eintrag über ihren Tod.
Es sind die einzigen Spuren von Anna Sutter. Nachfahren in Wil sind nicht bekannt, zu kurz war die Familie in der Stadt. Im Geburtenregister ist keine Adresse aufgeführt. Auch im Niederlassungsregister nicht, was gemäss Stadtarchivar Werner Warth etwas seltsam anmutet. Denn üblicherweise war der Wohnort jeweils notiert. Eine Vermutung von Werner Warth ist, dass die Familie damals in einem Hotel logierte. In Wil erinnert also nahezu nichts mehr an Anna Sutter. Durch die Erstaufführung der Oper «Annas Maske» am Stadttheater St. Gallen kehrt sie aber gewissermassen auf die Bühne und damit auch in die Erinnerung zurück.