Startseite
Ostschweiz
Wil
Seit Herbst 2020 trainiert der KTV Wil Leichtathletik nach einem neuen Sportkonzept, das von Coach Philipp Engeler entwickelt wurde. Im Kern geht es darum: Die Trainingsplanung wird viel zielgerichteter auf den einzelnen Athleten abgestimmt. Der 32-Jährige investiert dafür viel Zeit und Leidenschaft.
Vier Jugendliche hieven Hanteln und andere Gewichte dynamisch in die Höhe. Es ertönt lautstarke Musik, die offensichtlich motiviert. Doch der Eindruck täuscht: Was sich auf dem Aussengelände der Wiler Sportanlage Lindenhof abspielt, ist kein Street-Workout, sondern eine Krafteinheit der Leichtathleten des KTV Wil.
Das neue Konzept, auf dem diese Trainings basieren, wurde von Vereinstrainer Philipp Engeler entwickelt, der für die Athleten ab Altersstufe U16 zuständig ist. Unter anderem betreut er die Sprinterin Lia Thalmann und den Speerwerfer Joel Gasser, die zu den zwei grössten Nachwuchshoffnungen des KTV Wil Leichtathletik gehören.
Der frühere Zehnkämpfer Philipp Engeler ist vor über zehn Jahren als Trainer bei seinem Stammverein KTV Wil Leichtathletik eingestiegen. Gleichzeitig arbeitete der gelernte Bodenleger nach einer Umorientierung als Fitnessinstruktor und als stellvertretender Leiter eines Centers.
Leichtathletik und Fitnessbranche – je länger sich Engeler zwischen diesen zwei Aufgaben bewegte, merkte er: «Beiden gerecht zu werden, ist auf lange Sicht kaum möglich. Nur schon vom zeitlichen Aufwand her.» Vor zwei Jahren entschied er sich schliesslich, voll auf die Karte Leichtathletik zu setzen und seinen Job im Fitness per Ende 2019 aufzugeben. «Mein Herzblut für die Leichtathletik und den KTV Wil war ausschlaggebend», sagt Engeler: «Ich möchte hier etwas aufbauen.»
Dies wurde nur möglich, weil er einen Job im Teilzeitpensum bei der Stadt Wil als Materialwart im Sportbereich fand. Dies erlaubt ihm, sich mit viel Zeitaufwand für den KTV Wil zu engagieren.
Ende 2020 hat Engeler das B-Trainerdiplom erworben, das zweithöchste des Leichtathletikverbands. Dieses Jahr strebt er das A-Diplom an. Keine Frage: Engeler ist ein Glücksfall für den KTV Wil und seine Athleten.
Vergangenen Herbst wurde mit dem Sportkonzept begonnen: Alle Athleten ab Stufe U16 konnten angeben, wie oft sie pro Woche trainieren, wie viele Wettkämpfe sie pro Jahr bestreiten möchten und was ihre Ziele sind. Aufgrund der Rückmeldungen teilte Engeler die Athleten auf diese drei Niveaus auf: Basisstufe, Leistungsstufe eins und Leistungsstufe zwei. Zudem konnte er die Trainingsplanung zielgerichteter auf den Sportler abstimmen.
Engeler ist es sehr wichtig, dass «alle Athleten Platz im Sportkonzept haben». Nebst den leistungsorientierten auch jene, die wöchentlich einmal trainieren möchten. Zur Leistungsstufe zwei zählen einzig Thalmann, Gasser und Gabriel Nzinga, die aber mit Kollegen aus der tieferen Leistungsstufe zusammen trainieren – zum Beispiel am Dienstagabend, wenn der Fokus auf der Kraft liegt.
Aktuell befindet sich die Trainingsgruppe in der Schnellkraftphase, in der sich die Muskulatur an die schnellen Bewegungen gewöhnen soll. Indem pro 30-Sekunden-Einheit so viele Wiederholungen wie möglich gemacht werden: «Noch fünf Sekunden, ein bis zwei schafft ihr noch!», motiviert Engeler. Anschliessend folgt eine Verschnaufpause, ehe die nächste halbminütige Übung ansteht.
Die Betreuung zwischen den beiden Leistungsstufen unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt: Athleten der höchsten Kategorie erhalten einen eigenen Jahrestrainingsplan. Zudem trifft sich Engeler mit jedem Sportler dieser Stufe und dessen Eltern dreimal pro Jahr, um Dinge zu optimieren: «Es geht etwa darum, dass das Training noch besser auf das Schul- und Privatleben abgestimmt werden kann», sagt der 32-jährige Engeler aus Wil.
Die Athleten aus der Leistungsstufe eins profitieren auch von diesen individualisierten Trainingsplänen, bilden sie doch auch für gemeinsame Einheiten das Grundgerüst.
Lia Thalmann, Schweizer U16-Meisterin im 80-m-Sprint, und Speerwerfer Joel Gasser sind begeistert von der massgeschneiderten Betreuung. Die 15-Jährige aus Zuckenriet sagt:
«Ich fühle mich viel fitter und meine Zeiten sind besser als zum gleichen Zeitpunkt in Vorjahren.»
Und der 17-jährige Gasser, U20-Meister in der olympischen Staffel: «Wir können viel gezielter an den Schwächen arbeiten.» Was der Wiler anspricht, ist in der Tat ein Vorteil – und funktioniert so: Nach einem vier Wochen dauernden Trainingsblock finden Leistungs- und Feldtests statt. Dabei wird überprüft, ob die Ziele erreicht wurden. Ist das nicht der Fall, passt Engeler den Trainingsplan an.
Ein Beispiel: Joel Gasser kam vor den Schweizer Meisterschaften 2020 bei einem Sprungtest nicht auf die anvisierten 2,70 bis 2,80 Meter aus dem Stand – mit dieser Weite sollte er laut Trainingslehre fähig sein, den Speer 55 bis 60 Meter zu werfen. Also baute Engeler mehr Einbeinsprünge in den nächsten Trainingsblock ein. Mit Erfolg: Beim nächsten Test erreichte Gasser die entsprechende Zubringerleistung.
Die Pläne sind also nicht starr, sondern flexibel – sie werden je nach Entwicklung verfeinert. Engeler passt sie mittlerweile monatlich an, was pro Athlet mit einem Aufwand von fünf bis sieben Stunden verbunden ist. Ein grosser Einsatz, für den Thalmann und Gasser enorm dankbar sind: «Es ist sehr motivierend, dass Philipp Engeler sich so viel Zeit für uns nimmt.»
Vier Jugendliche und Trainer Engeler, die Masken tragen, wenn die übliche Distanzregel nicht eingehalten werden kann: Die Coronapandemie hat auch den Trainingsbetrieb des KTV Wil beeinflusst. Seitdem die Freizeiteinrichtungen vor Weihnachten schliessen mussten, wird draussen trainiert. Denn Wils Sportstätten im Freien wie etwa die Leichtathletikanlage Lindenhof dürfen weiter genutzt werden – unter Einhaltung des Schutzkonzepts wie der limitierten Gruppengrösse bei Jugendlichen ab 16 Jahren.
Krafttrainings, wozu auch dynamische Sprünge gehören, spielten in der Saisonvorbereitung bisher eine grosse Rolle. Wenn es das Wetter und die Temperaturen aber erlaubten, wurden bereits Läufe gemacht oder leichte Gewichte geworfen.
Zum Trainingsende steht für jeden Athleten noch eine Übung zur Maximalkraft an, die in der Leichtathletik entscheidend ist. Speerwerfer Joel Gasser macht Gewicht um Gewicht an der Hexbar-Hantel fest. Ohne grosse Anstrengung schafft er wenige Wiederholungen – bis er stoppt und sagt:
«Das ist zu wenig, ich brauche alle Gewichte.»
Was insgesamt 175 Kilogramm entspricht, die er genauso meistert. Solche Zeichen stimmen Engeler und seine Athleten zuversichtlich, dass 2021 eine erfolgreiche Saison wird. Die ersten Lockerungen im Sport, die ab Montag gelten, dürften zu noch mehr Optimismus führen.