Jenische, Sinti und Roma: Wie die unbekannte Minderheit die Kultur der Schweiz bereichert

Die Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil lädt übermorgen zur Ausstellung über Jenische, Sinti und Roma. Das Kennenlernen ihrer Kultur soll Vorurteile abbauen und das gegenseitige Verständnis fördern.

Tobias Söldi
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Lassen sich fahrende Gruppen für eine Zeit nieder, ruft das nicht nur positive Reaktionen hervor. Thomas Rhyner, Präsident der Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil, ist überzeugt, dass hinter den Vorbehalten oft Unkenntnis über Mensch und Kultur steckt. Dem will die Gesellschaft mit einer Ausstellung über Jenische, Sinti und Roma (siehe Kasten) Abhilfe schaffen. Die Wanderausstellung kommt dabei von der Radgenossenschaft der Landstrasse aus Zürich, deren Präsident Daniel Huber an der Eröffnung anwesend sein wird.

Daniel Huber, wen meinen wir, wenn wir pauschalisierend «Fahrende» sagen?

Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse

Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse

Huber: Damit sind Schweizer Jenische und Sinti gemeint, eine seit 2016 anerkannte Minderheit. In der Schweiz gibt es etwa 35000. Etwa zehn Prozent sind immer auf Reisen, der Rest ist teilweise oder ganz sesshaft.

Was hat die Radgenossenschaft der Landstrasse für eine Funktion?

Huber: Sie ist die Dachorganisation der Jenischen und Sinti der Schweiz. Unser Ziel ist es, Vorurteile abzubauen und Lebensraum zu schaffen. Wir leben anders, aber wir sind ein Teil der Schweizer Geschichte und bereichern die Kultur der Schweiz. Das möchten wir mit Öffentlichkeitsarbeit zeigen, zum Beispiel mit Ausstellungen oder unserem Dokumentationszentrum in Zürich.

Sie reden in der Wir-Form. Sind Sie selbst unterwegs?

Huber: Ich bin jenisch. Früher war ich unterwegs, heute lässt es mein politisches Engagement nicht mehr zu. Aber meine Kinder und viele Freunde und Verwandte sind unterwegs.

Thomas Rhyner, Sie haben die Ausstellung nach Oberuzwil gebracht hat. Wie sind Sie auf das Thema gestossen?

Präsident Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil

Präsident Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil

Rhyner: Den Ausschlag hat ein Ereignis im Jahr 2016 gegeben. Die Bevölkerung von Gossau hat damals einen Durchgangsplatz für Fahrende im Industriegebiet abgelehnt. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Wo, wenn nicht dort? Eigentlich sollte der Kanton die Plätze gewährleisten, oft harzt es aber bei der Bevölkerung. Es ist eine Pattsituation.

Wie ist es dann zur Ausstellung gekommen?

Rhyner: Ich habe den Kontakt mit der Radgenossenschaft der Landstrasse gesucht und gefragt, was man hier machen könnte. Die Antwort war, dass es oft an der Kommunikation fehlt, weshalb sie eine Wanderausstellung vorgeschlagen haben, an der man die Kultur der Jenischen und der Sinti kennenlernen kann. Der Vorstand der Donnerstags-Gesellschaft fand den Vorschlag spannend.

Was zeichnet die Kultur der Jenischen und Sinti aus?

Huber: Im Zentrum steht das Reisen, das Zusammensein mit anderen Familien, das Zusammensitzen um das Feuer. Die Familie nimmt eine zentrale Rolle ein, genauso wie die Musik. Ausserdem bringen wir durch das Hausieren viele Dienstleistungen direkt zu der Bevölkerung.

Womit hat die Minderheit zu kämpfen?

Huber: Es hat schlicht zu wenig Stand- und Durchgangsplätze. Wir haben immer mehr Mühe, an Lebensräume zu kommen, gleichzeitig brauchen wir diese Plätze, um unsere Kultur zu leben – sonst geht sie unter.

Wo gibt es solche Plätze in der Schweiz?

Huber: Das ist von Kanton zu Kanton verschieden. Im Aargau hat es zum Beispiel viele Plätze, im Kanton Schwyz nur sehr wenige. Es ist eine Aufgabe, die Bund, Kanton und Gemeinde betrifft. Die Kantone arbeiten daran, sie wollen etwas machen, aber oft scheitert es dann in der Gemeinde.

Warum gibt es ihrer Meinung nach Vorbehalte gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe?

Huber: Ich denke, die Vorurteile kommen daher, dass wir unser Leben auf andere Art führen. Mit der Ausstellung wollen wir diese Vorurteile abbauen und auch zeigen, dass wir schliesslich genau dieselben Menschen sind wie alle anderen auch.

Rhyner: Die Vorbehalte beruhen oft auf Vorurteilen, negativen Erfahrungen und Nichtwissen, und zwar auf beiden Seiten. Die Bevölkerung hat vielleicht Bilder von Abfallbergen nach Hochzeiten von Fahrenden im Kopf, und die Fahrenden sind skeptisch gegenüber den Behörden, etwa wegen der Aktion «Kinder der Landstrasse», die bis in die 70er-Jahre viele Familien auseinandergerissen hat. Ein Weg, dem entgegenzuwirken, ist die Kommunikation, die Begegnung.

Was soll mit der Ausstellung in Oberuzwil erreicht werden?

Rhyner: Am schönsten wäre es, wenn ein Dialog entstehen würde. An der Eröffnung wird es Musik von Jenischen geben, ich werde das Publikum begrüssen und Herr Huber wird ein Referat über die Jenischen und Sinti halten. Danach soll es möglich sein, das Gespräch mit den anwesenden Fahrenden zu suchen.

Was hat sie in der Beschäftigung mit dem Thema am meisten überrascht, fasziniert oder auch irritiert?

Rhyner: Da gibt es drei Dinge zu erwähnen: Zuerst, wie unbekannt Jenische und Sinti sind. Und das, obwohl es in der Schweiz doch 35000 von ihnen gibt. Überrascht hat mich auch, wie viel sie zur Schweizer Volksmusik beigetragen haben. Jenische haben oft an Stubeten gespielt, mit Schwyzerörgeli und Kontrabass. Man vermutet, dass einige Klassiker der Schweizer Volksmusik jenische Wurzeln haben. Was mich aber am stärksten berührt hat, ist das Schicksal der fahrenden Familien, die bis in die 70er-Jahre im Zuge von «Kinder der Landstrasse» auseinandergerissen worden sind. Ein Schweizer Spielfilm von 1992 mit dem gleichen Namen hat das Thema sehr eindrücklich aufgenommen.

Unbekannte Nachbarn

Die Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil lädt diesen Donnerstag, 8. November, zur Vernissage der Ausstellung «Deine unbekannten Nachbarn, das Volk der Jenischen, der Sinti und der Roma» in die Unterkirche der katholischen Kirche Oberuzwil. Der Anlass beginnt um 20 Uhr mit Referaten und Musik von Jenischen eröffnet, danach besteht die Möglichkeit zum gegenseitigen Kennenlernen. Die Ausstellung legt den Fokus auf die Kultur der «Fahrenden». Am Freitag, 9. November, ist die Ausstellung von 17 bis 20 Uhr geöffnet, am Samstag und Sonntag von 13.30 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. (pd)

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