Debüt, Top 10, Schweizermeister, Traumsaison: Cédric Noger gehört seit letztem Winter zu den besten Skifahrern der Welt. Lange musste der 27-Jährige für diesen späten Durchbruch arbeiten – und sich gedulden.
Es beginnt zu regnen in Wil. Cédric Noger steht auf der Terrasse des Hauses, in dem er aufgewachsen ist und heute noch lebt, sein Blick schweift in Richtung Altstadt und die sich dahinter türmenden dunkelgrauen Wolken. Nicht gerade das passende Wetter für einen Skifahrer.
Der 27-Jährige trägt einen Pullover von Swiss-Ski, seine Ski-Ausrüstung hat er jedoch nicht dabei. Die befinde sich im Service und werde erst im Juli für das erste Schneetraining wieder gebraucht. Trotzdem sei er nur für einen Tag zu Hause, stehe er doch mitten in der Vorbereitung: Vergangene Woche trainierte er in Österreich, nächste Woche geht’s nach Mallorca. Fitness statt Ballermann ist angesagt, sechs Stunden am Tag, auf dem Velo oder im Kraftraum. Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit, alles muss wieder aufgebaut werden auf die kommende Saison hin. Denn im Oktober ist der Wiler beim Weltcup-Auftakt in Sölden startberechtigt. Es ist der Lohn der vergangenen Saison, die ihn in die Riege der besten Riesenslalomfahrer der Welt katapultiert hat.
Rückblick auf letzten Winter: Noger, der zuvor maximal an zweitklassigen Europacup-Rennen teilgenommen hat, schafft die Qualifikation für den Riesenslalomklassiker in Alta Badia Mitte Dezember. «Endlich», kommentiert er. Es ist sein Weltcup-Début mit 26 Jahren, in seiner Sportart gilt er als Spätzünder. Seine Premiere beendet er auf dem ordentlichen 36. Platz. Nur wenige Tage darauf nimmt er in Saalbach-Hinterglemm am nächsten Riesenslalom teil – und fährt sogleich in die Punkteränge. «Da hatte ich schon beim Start ein Grinsen im Gesicht», erinnert sich Noger. Am Ende ist es Rang 18 – und «die Bestätigung, dass ich es drauf habe».
Auf die Bestätigung folgt die Sensation. Diesmal im slowenischen Kranjska Gora. Nach einem bereits starken ersten Lauf mit dem neunten Zwischenrang legt Noger im zweiten Lauf nochmals zu.
«Es war sehr streng. Doch: Je strenger es sich anfühlt, desto schneller bist du unterwegs.»
Noger rauscht auf den sensationellen vierten Platz, knapp hinters Podest, aber vor Ski-Star und Dominator Marcel Hirscher: «Es war absolut surreal. Noch vor dem zweiten Durchgang gingen mir Millionen Gedanken durch den Kopf, ich war nervös und gleichzeitig aufgeregt. Doch als ich im Ziel ankam, kam mir nur ein Wort in den Sinn: geil.» Noger nimmt den Schwung mit, punktet auch im letzten Saisonrennen in Andorra und feiert Ende März den Schweizer-Meister-Titel im Riesenslalom.
Nun, einen Monat später, mit der Startnummer von Andorra und der Goldmedaille der Schweizer Meisterschaft im Zimmer hängend, resümiert er: «Je länger die Saison her ist, desto mehr erkenne ich, was mir die Resultate bedeuten. Sie zeigen: Wenn du es einmal geschafft hast, kannst du es immer wieder schaffen. Das macht Lust auf mehr.» Klar ist auch: Die Saison ist der Höhepunkt seiner bisherigen Ski-Karriere – und seines langen Weges bis dorthin.
Angefangen hat dieser Weg vor mehr als zwei Jahrzehnten. Ungefähr mit drei Jahren stand Noger erstmals in den Skischuhen. Einige Bildschnipsel von den ersten Schwüngen seien ihm im Kopf hängengeblieben, positive wie auch negative:
«Ich erinnere mich an ein Clubrennen, als ich keine Lust mehr hatte, auf der Strecke anhielt und die Handschuhe auszog. Ich erinnere mich aber auch an eine Müslischüssel, die ich gewonnen und danach lange gebraucht habe.»
Noger stand oft auf den Skis, ob mit der Familie in den Ferien im bündnerischen Avers oder im Skiclub. Auch in der Stube vor dem Fernseher waren Skirennen ein omnipräsentes Thema: «Natürlich fieberte ich da mit den Schweizern mit.» Eine Autogrammkarte auf dem Regal seines Zimmers offenbart seine Begeisterung aus Kindheitstagen. Sie erinnert Noger an sein erstes Idol: Sonja Nef. «Ich durfte sie mal auf der Piste treffen und ihr nachfahren. Das war der Wahnsinn.»
In den darauffolgenden Jahren kamen weitere Idole – darunter Hermann Maier, «der einen unbändigen Willen besass» – hinzu, die Begeisterung für den Skisport wuchs. Noger war voller Ehrgeiz. Und hatte ein ungewöhnliches Ziel:
«Ich wollte unbedingt einen dieser roten Skianzüge des Ostschweizer Skiverbands. Das hat mich gepusht, so kam ich ins Kader.»
Der Wunsch nach einer Profikarriere als Skifahrer wurde gleichzeitig sukzessive grösser, eine alternative Berufswahl gab es nicht. Mit 14 entschied er sich dann für seinen Weg. «Damals hiess es: Ski oder Fussball – meine andere Passion.» Er blieb bei den Ski.
Noger ging 2007 nach Davos ins Sportgymnasium, schloss dieses fünf Jahre später ab und stiess zu Swiss-Ski. Der damals 20-Jährige war bereit, hart zu arbeiten und zu verzichten, fokussierte sich auf seine Lieblingsdisziplin, den Riesenslalom. Doch statt einem schnellen Aufstieg folgte die Resignation. Noger stagnierte in seiner Entwicklung, Teamkollegen im gleichen Alter fuhren schneller, entwickelten sich mehr, waren besser. Sein Manko:
«In den Trainings haben die Leistungen gestimmt, doch am Renntag X konnte ich sie nicht abrufen. Vielleicht war ich zu ungeduldig, erwartete zu schnell zu viel von mir.»
2014 flog der Wiler gar aus dem C-Kader von Swiss-Ski, musste seine Trainings – auch finanziell – nun selber organisieren. Doch Noger liess sich nicht unterkriegen, arbeitete mit dem ehemaligen Weltcup-Fahrer Dietmar Thöni als Privattrainer eng zusammen. Dabei half Noger nicht nur die Expertise und neuen Impulse des Österreichers, sondern auch sein Bewusstsein dafür, an was er arbeiten musste und wo seine physischen und mentalen Schwächen lagen. Rückschläge pushten ihn vorwärts, sein Wille – «meine wohl grösste Stärke» – blieb ungebrochen.
«Auch wenn es manchmal nicht Spass gemacht hat und ich mich stets fragte, warum ich mir das noch antue, machte ich weiter.»
Nun mache es Spass. Noger kämpfte sich zurück, brachte vergangenen Winter endlich die Resultate, die man von ihm – und er auch von sich selbst – jahrelang erwartet hatte. Jetzt ist er in den Top 30 des Riesenslalom-Weltcups angekommen – und schaffte den Sprung ins A-Kader von Swiss-Ski. «Das Niveau dort ist höher, auch im Training.»
Doch wie geht er nun in die kommende Saison, nach solch einem Höhenflug? Sind die Ansprüche gewachsen, gar zu hoch? Noger will am Boden bleiben: «Zugegebenermassen würde ich jetzt am liebsten immer vorne dabei sein wollen. Doch ich muss realistisch bleiben, denn es kann alles schnell wieder kaputt gehen.» Ziel sei es nun, sich in den Top 20 zu etablieren, Schritt für Schritt. An die fernere Zukunft will Noger noch nicht denken. Zwar studiere er nebenbei Wirtschaftswissenschaft, doch der Skisport hat weiterhin Priorität. Denn sein Profi-Alltag ist so, wie er es sich in jungen Jahren erhofft hat:
«Ich lebe mit Emotionen, die du nirgendwo sonst bekommst.»