WIL. Wie aus zwei zivilisierten Ehepaaren Hyänen werden, konnte das Publikum in der Tonhalle mitverfolgen. Trotz der Eskalationen auf der Bühne gab es viel zu lachen, spritzige Dialoge und die Erkenntnis, dass in allen Neandertaler stecken.
In Yasmina Rezas «Gott des Gemetzels» bekam am Freitagabend das Publikum der Tonhalle Wil die Gelegenheit, tief in menschliche Abgründe zu blicken. Die Vorgeschichte: Zwei Buben geraten aneinander, und am Höhepunkt des Streites schlägt der eine dem anderen mit einem Stock zwei Schneidezähne aus. Daraufhin laden die Eltern des Opfers – Véronique (Katharina von Bock) und Michel (Stefan Lahr) – die Eltern des Täters ein, um zivilisiert und de-eskalierend die Angelegenheit zu besprechen. Annette (Miriam Wagner) und Alain (Pit Arne Pietz) erscheinen gesprächsbereit zu Kaffee und Kuchen. Das klingt einfach, doch die Tücke liegt im Détail, und kleinste Funken können das Pulverfass zum Explodieren bringen. Und von diesen Funken wurde im Verlauf des Abends zum grossen Vergnügen des Publikums ein ganzes Feuerwerk gezündet.
Das Stück lebte nicht nur von den spritzigen und pointierten Dialogen und der Situationskomik, sondern erhielt durch die beeindruckende schauspielerische Leistung der Protagonisten eine grosse Intensität. Wurde anfangs nett über Tulpen und Torten geplaudert, rutschte das Gespräch zentimeterweise weiter in Richtung unter die Gürtellinie – bei Themen wie Klospülungen, Hamstermord und Granatenwerfern. Dabei schenkten sich die Kontrahenten nichts. Natürlich war der Harmonie nicht gerade förderlich, dass Anwalt Alain ständig per Handy Anweisungen zur Schadensbegrenzung bei einem Pharmaskandal gab und so jeden Dialog zerhackte. Verbal wurden von allen Seiten Giftpfeile abgeschossen, es gab bitterböse Schuldzuweisungen, beide Ehen drohten zu zerbrechen, und schliesslich wurde man handgreiflich. Es flogen Tulpen, Alains Handy landete im Vasenwasser, und Annette warf ihren Mageninhalt von sich – gut gezielt über die wertvollen Kunstbücher der Gastgeberin.
Der «Gott des Gemetzels», der seit der Steinzeit in uns allen steckt, hatte wieder einmal triumphiert und auf ganzer Linie gesiegt. Rund anderthalb Stunden dauerte der kräftezehrende Bühnenkampf des «Gutmenschen» gegen niedere Triebe, Egoismus und Konkurrenzkampf – die schwarze Komödie wurde zu Recht ohne Pause gespielt, um ihr nicht die Dynamik zu nehmen. Das Publikum zeigte den Protagonisten seine Anerkennung mit einem langanhaltenden Applaus.
In Koproduktion mit dem Theater Biel Solothurn brachte das Theater Kanton Zürich das Stück in dieser Inszenierung unter der Regie von Felix Prader im September 2013 erstmals auf die Bühne. In ihrem Schauspiel zeigt die preisgekrönte französische Schriftstellerin und Schauspielerin Yasmina Reza auf amüsante Weise, wie schnell die Grenzen der Zivilisation erreicht sind und dass in jedem von uns noch ein Neandertaler schlummert. «Der Gott des Gemetzel» wurde 2011 von Roman Polanski verfilmt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly in den Hauptrollen.