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Das Textilmuseum in Sorntal ist ein Kulturgut von nationaler Bedeutung. Die «Erlebnisstätte textilen Entstehens» umfasst betriebsbereite Maschinen aus der Frühzeit bis zur Industrialisierung. Gottlob Lutz gewährt überraschende Einblicke.
Die Schwelle unter der hölzernen Tür zum Sorntaler Textilmuseum trennt Epochen. Hier, auf der obersten Stufe der Aussentreppe, endet die Gegenwart, beginnt die Reise in die Vergangenheit. Knorrige, blank gewachste Dielen ziehen sich über den Fussboden. «Sie stammen noch aus der Bauzeit des Hauses im Jahr 1850», sagt Gottlob Lutz. Er muss es wissen. Der ehemalige Geschäftsführer der Zetag AG ist «Textiler» mit Leib und Seele. Ein halbes Leben lang hatte ihn die industrielle Fertigung von Stoffen in Sorntal begleitet: beruflich vor allem, aber auch privat.
Als die Zetag AG den Produktionsstandort 2007 nach 37 Jahren aus wirtschaftlichen Gründen schloss und die Fertigung ins Partnerunternehmen Zweigart & Sawitzki in Sindelfingen integrierte, blickte Lutz auf genau so viele Berufsjahre als Direktor zurück. Damit begründet er auch den Umfang der Sammlung, die sich über drei Geschosse des Museums erstreckt. Gottlob Lutz verfügt branchenintern über ein dichtes Netzwerk. «Die meisten Exponate konnte ich nach Betriebsschliessungen übernehmen. Sie wären sonst in der Mulde gelandet», sagt er. Wobei er früher, auf der Suche nach Trouvaillen, auch leidenschaftlich Brockenstuben durchstöbert habe.
Seine Maschinen wartet Gottlob Lutz nach wie vor selber. Wie viel Zeit er dafür aufwendet, kann oder mag er nicht sagen. «Es ist mein Hobby, da schaue ich nicht auf die Uhr.» Es müssen viele Stunden sein. Alle Maschinen rattern wie geschmiert und auf keinen der scheinbar unzähligen Dokumentations- und Musterbücher ist ein Staubkorn auszumachen. Geordnet stehen Letztere in den Regalen.
Hin und wieder schlägt Lutz ein besonders interessantes Exemplar auf, gibt sein Wissen über dessen Geschichte preis. Da ist ein in Leder gebundenes Buch der Webschule Wattwil. Deren Besuch hätten sich damals, 1887, nur Fabrikantenkinder leisten können. Alle anderen hätten von Montagmorgen bis Samstagabend an den Maschinen gearbeitet und sich in Sonntagskursen zum Meister ausbilden lassen.
Gottlob Lutz greift nach einem Buchhaltungsbuch. 80 Rappen habe ein Weber 1866 pro Tag verdient, sagt er. Setzt den Lohn aber sogleich in Relation zu den damaligen Lebenshaltungskosten. Der Bauernhof nebenan, ein Selbstversorgerhof, sei damals inklusive 1,5 Hektaren Land für 3600 Franken zu haben gewesen.
Auf dem Rundgang verliert sich schleichend das Zeitgefühl. Es ist ein leichtes, Stunden in den Räumen zu verbringen. Langeweile findet hier keinen Platz. An einem der Jacquard-Webstühle lehnt ein goldig gerahmter Stich. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Ansicht von Zürich aus feinsten Seidenfäden gewoben ist. Lutz spricht von 318000 Laufmetern Faden pro Kilogramm.
Derlei kunstvolle Bilder entstehen durch Verflechten von Längs- und Querfäden nach einem Programm, das auf Lochkarten hinterlegt ist. Diese steuern letztlich den Webstuhl und lassen detailgetreu nachempfundene textile Kunstwerke entstehen. Im Museum gibt es Lochkarten, mit denen sich 25 verschiedene Stadtansichten weben lassen. Auch heute noch.
Dieser Webstuhl ist, wie alle ausgestellten Maschinen und Geräte, betriebsfähig, sagt Gottlob Lutz und liefert sogleich den Beweis. Minuten später rattert auch der englische Schlauch-Webstuhl von 1850 – die älteste Webmaschine der Schweiz, wie Gottlob Lutz weiss. Und auch die Schifflistickmaschine von Isaak Gröbli (1822-1917) aus Gossau, der übrigens ein gebürtiger Oberuzwiler war.
Schliesslich führt Gottlob Lutz hinauf in die dritte Etage. «Meine Schatzkammer», meint er verheissungsvoll. Die weibliche Puppe am Wegstuhl ist getreu der damaligen Zeit gekleidet. Die Robe habe seine Frau geschneidert, sagt Lutz. Daneben arbeitet ein «Kind». Und mitten im Raum ragt ein reich geschnitzter Stab zur Decke: «Ein Zunftstab aus dem 17. Jahrhundert», erklärt Lutz. Weshalb er «überlebt» hat, weiss er nicht. Denn diese Stäbe seien jeweils dem Letzten der Zunft mit ins Grab gelegt worden.
Gottlob Lutz kommt aus dem Erzählen nicht heraus. Er hängt an seinem Lebenswerk. Mit wie viel Herzschmerz trennt er sich davon, wenn die Liegenschaft verkauft und das Inventar an einen Verein übergeht? «Das Wichtigste ist doch, dass die Sammlung erhalten bleibt, dass es weitergeht.» Und dies sei mit dem geplanten Verein sichergestellt.
Die Eigentümerin der Museumsliegenschaft, die Firma Georgii aus Sindelfingen, will Gebäude und Grundstück aufgrund des anstehenden innerbetrieblichen Generationenwechsels veräussern. Der Niederbürer Gemeinderat hat den Kauf für 430000 Franken beschlossen und den Entscheid dem fakultativen Referendum unterstellt. Eine Unterschriftensammlung ist im Gange (Wiler Zeitung vom 13. Juni). Die Referendumsfrist endet am 3. Juli. Für eine Urnenabstimmung sind 100 Unterschriften nötig.