Illegitim und liederlich

Sie lebte von 1884 bis 1965. Sie kam im Gamser Gertis zur Welt und wurde auf den Namen Anna Maria getauft. Sie war eine Boxler. Ihr Leben war kinderreich, unstet und ärmlich.

Reto Neurauter
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Autorin Lisbeth Herger und Historiker und Enkel Heinz Looser haben dank 1500 Quellen das Leben seiner Grossmutter Anna Maria Boxler nachzeichnen können. (Bild: Reto Neurauter)

Autorin Lisbeth Herger und Historiker und Enkel Heinz Looser haben dank 1500 Quellen das Leben seiner Grossmutter Anna Maria Boxler nachzeichnen können. (Bild: Reto Neurauter)

GAMS. Alles begann vor einigen Jahren mit einer Erbschaftsbescheinigung seines bislang unbekannten Onkels Julius Looser, der mittellos im Bürgerheim in Nesslau verstorben war. Viel früher habe er, Heinz Looser, sich einmal bei seinem Vater über seine Grossmutter erkundigen wollen. Im Brief, der anstelle eines Prologs an den Anfang des Buches «Zwischen Sehnsucht und Schande – die Geschichte der Anna Maria Boxler» gestellt ist, schildern Enkel und Historiker Heinz Looser und dessen Frau und Autorin Lisbeth Herger, wie niederschmetternd die Antwort gewesen sein muss: «In deiner (Anna Marias) Familie hat man das Vergessen soweit getrieben – und nicht einmal deinen Namen genannt.»

An der Lesung am Freitagabend in der Alten Mühle in Gams, an dem Ort, wo Anna Maria Boxler – welch wohlklingender Name – illegitim (unehelich) geboren wurde, später in amtlichen Dokumenten höchstens in einem flüchtigen Nebensatz als «liederliches Luder auftaucht und gleich wieder verschwindet», wurden die zahlreich Zuhörenden mit einem Leben konfrontiert, das man heute wohl, so Herger, «als himmeltraurig» bezeichnen würde. Geladen dazu hatten die Historisch-Heimatkundliche Vereinigung der Region Werdenberg (HHVW) und die Alte Mühle Gams, deren Verantwortlicher Patrick Birrer sich über dieses Zusammengehen freute.

Wie eine «zweite Geburt»

Wie aber bekommt man sieben Jahre Recherche und 1500 Quellenangaben zwischen zwei Buchdeckel? «Herger und Looser haben es meisterhaft verstanden, Boxlers Geschichte mit des Historikers Forschungen zu verbinden», so HHVW-Präsidentin Susanne Keller-Giger (Buchs), «und sie haben es verstanden, auch mit der persönlichen Betroffenheit des Enkels gefühlvoll umzugehen.» Das Buch sei aber über dieses Einzelschicksal hinaus lesenswert, denn vieles erfahre man auch zur Ostschweizer Textil- und Sozialgeschichte, so Keller-Giger.

Es ist aber dieses Einzelschicksal der Anna Maria Boxler, das aufrüttelt. Diesen Namen derer, die seine Grossmutter war, entdeckte Enkel Heinz in der aus Nesslau eingetroffenen Erbschaftsbescheinigung. Und er will sie nochmals «auf diese Welt zurückholen». Ein Weg, der unerwartet lang werden sollte, «eine zähe, zweite Geburt» in etwa.

54mal gezügelt

Herger und Looser schildern an diesem Abend und im Buch, dass die Nachstickerin Boxler den Schifflisticker Adolf Looser im März 1903 heiratete, sozusagen zwei Habenichtse sich fanden, und im Januar darauf der Kindersegen seinen Anfang nahm und ihr beider Leben von grosser Armut geprägt war. Abtreibungsversuch, Diebstahl, Prostitution, sie habe vieles versucht, um aus dem Schlamassel herauszukommen. 54mal ist sie gezügelt, wohl auch geflüchtet vor dem Amtsschimmel.

Sie liess sich im Jahr 1920 scheiden, heiratete wieder, den arbeitslosen Mechaniker Julius Müller. Aber nichts wird besser, alle ihre Kinder werden nach und nach verdingt. Ihr Mann schlägt sie, immer wieder. Und eines Tages verschwindet er. Ein letztes schriftliches Lebenszeichen datiert vom 15. Februar 1960, dem vierten Geburtstag ihres Enkels. Es ist die Bitte um 20 Franken, die das Aarwangener Kassenbuch an die Frau Müller in Arbon verzeichnet. «Als Geburtstagsgeschenk für den Kleinen (Enkel Heinz) ist es nicht gedacht, denn sie weiss ja nicht einmal, dass es ihn gibt», schreibt Herger.

Keine Anklage, ein Mahnmal

In der anschliessenden Diskussion in der Alten Mühle wird klar, man hat den mittellosen Julius in Nesslau gut gekannt, und in Aarwangen fragt man sich, ob die dortigen Müller Nachfahren dieser Müller sind.

Und auf eine entsprechende Frage betont das Autorenpaar, dass es ihm nicht darum gehe, das moralische Versagen einzelner anzuklagen, «es soll ein Mahnmal sein, auch wenn man festhalten muss, dass einzelne Gemeinden mit den Armengenössigen heillos überfordert waren, weil sie ja selber auch fast kein Geld hatten». Und dennoch: Die Erinnerungen an die Grossmutter seien geprägt «von ihrer wahnsinnigen Kraft und lebensbezogener Energie», sagt Lisbeth Herger.

«Zwischen Sehnsucht und Schande – Die Geschichte der Anna Maria Boxler 1884–1965». Lisbeth Herger, Heinz Looser. Verlag Hier+Jetzt, Baden 2012. 234 S. ISBN 978-3-03919-253-3.