Unter der neuen Leitung von Suzanne Erb verstärken die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen die Prävention. Durch frühzeitiges Erfassen der Fälle soll Leid gelindert und die Heilungschancen verbessert werden.
ST. GALLEN. T-Shirts trägt die Jugendliche nie. Sie will nicht, dass irgendjemand ihre Unterarme zu Gesicht bekommt – denn sie ritzt sich. Mit Rasierklingen fügt sie sich willentlich Verletzungen zu. Die Narben sind Spiegelbild ihrer gepeinigten Seele – Spiegelbild ihres Leidenswegs. In der Schule ist sie stets Aussenseiterin, der frühe Tod des Vaters wirft sie vollends aus dem Gleichgewicht. Sie kifft und ist häufig verstimmt. In der Pubertät beginnt sie sich zu verletzen. Erst 19jährig begibt sie sich in Therapie – und bricht sie kurz darauf wieder ab.
Dieser Fall zeigt exemplarisch, wie sich seelische Probleme bei Kindern und Jugendlichen zu einem grossen Leiden verfestigen können. «Ein frühes Eingreifen hätte eine solche Entwicklung wahrscheinlich verhindert», sagt Suzanne Erb. Die Baslerin ist seit einem Jahr Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen (KJPD). Die 51-Jährige will die Präventionsarbeit verstärken und sie neben den Beratungen, Therapien sowie der Aus- und Weiterbildung für Psychologen und Ärzte zu einem zusätzlichen Schwerpunkt der interkantonalen Institution machen. Dafür wird sie eine Teilzeitstelle schaffen, die sich ausschliesslich um dieses Handlungsfeld kümmert.
Hätte sie die Möglichkeit gehabt, hätte Suzanne Erb im vorliegenden Fall sehr früh interveniert – «bereits im Kleinkindalter des Mädchens». Denn die Krankengeschichte deute darauf hin, dass schon zu Beginn Irritationen in der Beziehung zwischen Kind und Mutter auftraten. Auch später dürfte es laut der Kinder- und Jugendpsychiaterin immer wieder Signale gegeben haben, die auf Probleme des Mädchens hinwiesen.
Die Chefärztin spricht von «verpassten Chancen», macht aber niemandem Vorwürfe. Sie zeigt auf, dass «Verhaltensauffälligkeiten einen Jugendlichen nicht wie eine Grippe befallen» – sie seien das Resultat von fehlgeleiteten Entwicklungsschritten aufgrund persönlicher oder äusserer Belastungen.
Laut der Chefärztin lassen sich durch eine frühzeitige Erkennung eine schädliche Chronifizierung verhindern sowie die Heilungschancen deutlich verbessern. «Je früher man aktiv und – wenn nötig – eine Behandlung in Angriff nimmt, desto erfolgreicher und günstiger fällt sie aus.» Sie will damit Leid lindern – nicht nur gegenwärtiges, sondern auch zukünftiges. Denn häufig werden Probleme über Generationen vererbt. «Ein Kind, das nicht gelernt hat, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, wird auch als Erwachsener damit Mühe haben.»
Dank der verstärkten Prävention hofft die Chefärztin zudem, mittel- bis langfristig der Zunahme an Fällen entgegenzuwirken. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie «ist ein Wachstumsgebiet», wie sie im Jahresbericht schreibt. Aufgrund der wachsenden Bevölkerung und gesellschaftlicher Veränderungen haben die Anmeldungen in den vergangenen Jahren um 25 Prozent zugenommen – der Personalbestand aber um lediglich zehn Prozent. Die Folge: Die Ressourcen der Institution werden immer knapper.
Erschwerend hinzukommt, dass in gewissen Kantonsgebieten St. Gallens, etwa im Süden, eine Tendenz zur Unterversorgung besteht. «Es fehlen ausgebildete Kinder- und Jugendpsychiater», hält Erb fest. Und was dies für eine Region bedeuten kann, weiss sie aus eigener Erfahrung – daraus bezieht die Kinder- und Jugend-Psychiaterin ihre Motivation für eine verbesserte Präventionsarbeit. Bevor die Baslerin 2006 als leitende Ärztin zur Ostschweizer Institution gewechselt hatte, war sie elf Jahre in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten des Zürcher Unterlands tätig: «Die fehlenden Angebote führten dazu, dass dort vorwiegend die schweren Fälle behandelt wurden.»
Beim eingangs geschilderten Fall hätte sich die Chefärztin gewünscht, dass Bezugspersonen, die mit dem Mädchen im Kontakt standen, über «feine Antennen verfügt hätten, um frühzeitig Signale zu erkennen». Die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen wollen nun diese Antennen vermehrt sensibilisieren. Sie bieten etwa spezifische Lehrerfortbildungen an oder verstärken den Kontakt zu Partnerorganisationen, Haus- und Kinderärzten.
Auch Eltern und Verwandte sollen besser in die Präventionsarbeit eingebunden werden. Mit Veranstaltungen soll aber nicht nur das breite KJPD-Angebot, das von Baby-Sprechstunden bis hin zur Tagesklinik reicht, bekannter gemacht werden. «Vor allem die Hemmschwellen wollen wir abbauen», sagt Erb.
Psychische Störungen gelten immer noch als gesellschaftlicher Makel oder Schwäche – nicht alle seien bereit, professionelle Hilfe beizuziehen. «Doch genau das ist ein Zeichen der Stärke» – eine Stärke, die helfen kann, Seelenleid zu verhindern oder wenigstens zu mindern.