Die Buchserin Clara Sigrist-Hilty hat die Deportationen und die Massaker an den Armeniern 1915 miterlebt. Ihr Ehemann Fritz war zu jener Zeit als Ingenieur beim Bau der Bagdadbahn tätig. In Tagebüchern hielt Clara Sigrist das Erlebte fest, während ihr Mann auf der nahen Baustelle war.
WERDENBERG/TÜRKEI. Auch der zweite und letzte Teil dieses Tatsachenberichts basiert auf den Aufzeichnungen und Dokumenten von Clara Sigrist-Hilty, welche sich im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich befinden.
Das jungverheiratete Ehepaar Clara und Fritz Sigrist reiste kurz nach der Hochzeit im April 1915 mit der Eisenbahn durch das Kriegsgebiet des Balkans über Konstantinopel in die Türkei. In Keller, dem später in Fevzipasa umgetauften Eisenbahnknotenpunkt, fand das Paar seine Wohnung im Häuschen über der kilikischen Ebene. Fritz Sigrist nahm dort seine Arbeit bei der Bagdadbahn wieder auf, die er 1914 für einen Erholungsurlaub in der Schweiz unterbrochen hatte. Clara Sigrist schrieb ihre Eindrücke und Erlebnisse während fünf Jahren fast täglich in ein Tagebuch. Nebst Festen, Ausritten, Besuchen und Erlebnissen mit dem orientalischen Dienstpersonal nehmen Aufzeichnungen über das Kriegsgeschehen und die Deportationen der Armenier 1915 entsprechenden Raum ein.
Nachdem das Ehepaar einmal ein Flüchtlingslager in Aleppo besichtigte, konnten Clara und Fritz Sigrist das Gefühl von Angst und Unruhe kaum mehr loswerden. «Man fühlt nur die Sehnsucht, herauszukommen in die Einsamkeit oder an einen Ort, wo menschliche Gesetze walten», schreibt Clara Sigrist. «Alle Trümmerstätten und alle Neubauten, noch unfertig, dienen den Armen als Unterschlupf. Die Luft nahe dieser Orte ist oft scheusslich verpestet, man kann ihr und dem dichten Staub nicht ausweichen, der sich wie ein Nebel über die ganze Stadt ausbreitet. Mit Grauen ahnt man, welche Krankheiten und Seuchen schon im Entstehen sind. Täglich werden ungefähr 130 Tote hinausgetragen, man begegnet solchen Leichenzügen in den belebtesten Teilen der Stadt, ein Hamal läuft hinter dem andern, einen Sarg auf dem Rücken tragend, den Deckel nur lose darauf gelegt, mehrere Leichen bergend, oft übervoll.»
Weiter steht geschrieben: «Sieht man zufällig neuangekommene Vertriebene, so blickt man in verzerrte, tierähnliche Fratzen, drei und vier Monate sind manche unterwegs, nur die ganz Widerstandsfähigen haben die Reise ausgehalten.
Eine alte Frau erzählt, wie sie drei Monate mit ihrer Familie wanderte, erst ihre Habe auf Wagen und Eseln mit sich führend, dann deren beraubt, schleppten sie das Unentbehrliche auf dem Rücken, um bei einem Transport über den Euphrat gezwungen zu werden, auch noch das Wenige zurücklassen zu müssen.
Ein Völklein von Frauen blieb noch, die Männer niedergemetzelt, die arbeitsfähigen Jungen und Mädchen geraubt, die Kleinen hat der Tod in den ersten Wochen dahingerafft. Wohl allen, die nicht aushielten, denn der Überlebenden harrt Schreckliches. Ein neues Gesetz verbietet, den Armen irgendwelche Nahrungsmittel abzugeben, man treibt sie in die Wüste, und um ihre letzte Kraft zu brechen, führt man sie in tagelangen Wanderungen im Kreis herum bis wieder in die Nähe der alten Standorte. Jetzt machen der Regen und die Kälte der Qual ein rascheres Ende. Auch fallen sie so den räuberischen Beduinen leichter in die Hände.»
Eines Abends habe ein Stationsvorstand der Bagdadbahn telegrafisch um Hilfe gebeten, da die Kugeln der die Armenier beschiessenden Beduinen das Stationsgebäude trafen, schreibt die Chronistin. «Von Ras el eyn kommend, sah ein Arzt aus Aleppo vom Zug aus ein völlig nacktes kleines Kind auf den Bahndamm zulaufen. Weit und breit war in der endlosen Wüste kein Mensch zu sehen. Der Zug hielt an, und der Doktor nahm das kleine, etwa vierjährige Mädchen mit nach Aleppo.»
Drei Monate nach dem Aufenthalt des Ehepaars Sigrist in Aleppo verrät das Tagebuch: «Immer noch kommen die Ausgewiesenen auf der Etappenstrasse, zum Teil von der bulgarischen Grenze her, das Interesse aber an ihren Typen, Gewändern, usw. haben wir eingebüsst. All das Elend ignorieren ist das Einzige, nachdem wir tiefen Einblick in all das getan, denen sie sich mit jedem Schritt nähern. Im Sturm und Regen bleiben sie im Schmutz der Strasse liegen. Kommen sie bettelnd in die Nähe der Häuser, muss man sich vor ihnen verstecken, weil man kein Brot für sie hat. Am Strassenrand an Orten, wo sie die Nacht zubrachten (hundert Feuerchen scheinen durch die Nacht zu unseren Stubenfenstern herauf), findet man Tote, von wilden Tieren angefressen. Es fehlt den Überlebenden an Zeit und Werkzeug, um ihren Toten ein Grab zu schaufeln.»
Clara Sigrist hat auch Erfreuliches notiert, wie der Eintrag vom 8. März 1916 belegt: «Echter Frühlingstag, wir stehen am Morgen auf der Veranda und gucken den Geissli und dem Kindervolk zu, das sich am Abhang tummelt, und heimkehrende Kurdenmeitli, die im Holz waren, sich unterm Hüsli ausruhen und dabei im Liebesdienst einander die Köpfe untersuchen, schöne Gestalten sind dabei. Vom See in der Ebene ertönt ein gewaltig Froschkonzert.»
1935 kehrte Clara Sigrist in die Schweiz zurück, und im Oktober 1979 zog sie in ihr Geburtshaus auf dem Wuer am Werdenbergersee zu ihrem Gottechind Marianne Enderlin-Hilty. Einige Jahre wurde sie vom Ehepaar Enderlin liebevoll gepflegt. «Sie war eine gute Frau und Gotte», sagt heute Marianne Enderlin (geb. 1922). «Einmal erhielt ich von ihr gestickte Pantöffeli aus der Türkei und einmal auch Stoff für ein Kleid. Wir hatten ein gutes Verhältnis.»
Auch eine in der Gegend wohnhafte Enkelin von Clara Sigrist kann sich an ihre Grossmutter erinnern, mit der man viele schöne Stunden beim Geschichten und Märchen hören oder sogar beim Pilze suchen im Wald verbringen konnte.
Clara Sigrist-Hilty starb 1988 im Alter von 104 Jahren.