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Vor den Wahlen im Kanton St.Gallen: Im Dazwischenland – der Wahlkreis Wil im Porträt

Der Wahlkreis Wil hat Mühe mit seiner Identität. Ob nach St.Gallen, Zürich oder Winterthur: Jeder will irgendwo hin.

Katharina Brenner
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Über Mittag es ruhig am Bahnhof Wil. Doch in wenigen Stunden kehren die Pendler zurück.

Über Mittag es ruhig am Bahnhof Wil. Doch in wenigen Stunden kehren die Pendler zurück.

Nik Roth

Eine junge Frau hievt gemeinsam mit einer Mutter einen Kinderwagen in den Zug. Eine Seniorengruppe und ein Mann mit Rucksack steigen ein. Dann fährt der Zug mit Ziel St.Gallen ab. Es ist ruhig über Mittag am Bahnhof Wil. Die Pendler sind längst in ihren Büros verschwunden. Doch in wenigen Stunden werden sie zurückkehren. Aus St.Gallen, aus Zürich, aus Frauenfeld und Winterthur. Fragt man Wiler, Oberuzwiler oder Flawiler, was sie an ihren Gemeinden und ihrem Wahlkreis schätzen, fällt immer wieder dieser eine Satz:

«Man ist schnell überall.»

Wenn sich nicht gerade Hunderte Bühler-Mitarbeiter gleichzeitig auf den Heimweg machen oder der Zug wegen Verspätung ohne Halt von Winterthur nach St.Gallen fährt, stimmt das auch. Und nicht nur Arbeitsplätze sind gut zu erreichen, sondern mit Bodensee und Toggenburg auch beliebte Ausflugsziele. Die Fürstenlandlinie ist die am stärksten frequentierte im Kanton, im Jahr 2018 waren zwischen Flawil und Gossau täglich über 25000 Personen unterwegs. Die Landschaft bildet die ideale Kulisse für die Pendlerströme: hier und da erhebt sich bescheiden ein Hügel, sonst weiter Blick, tiefer Himmel. Und Strassen, die jeweils mitten durchs Dorfzentrum führen.

Der Hinterthurgau zählt zur Region

«Das Dazwischensein gehört zur DNA. Es ist Teil der Identität in der Region», sagt Matthias Loepfe. Der 37-Jährige ist Präsident des Gare de Lion, einem Kulturlokal in der alten Remise in Wil, das Konzerte, Partys, Festivals, Theater und Kleinkunst bietet. Die Gäste kommen je nach Anlass aus der weiteren Ostschweiz, in jedem Fall aber aus der Region, zu der Wiler auch den Hinterthurgau zählen. Loepfe lebt mit seiner Familie in Wil und das gern, wie er sagt. «Wil hat eine kleinstädtische Seele. Hier treffen sich die Leute noch, in der Altstadt, auf dem Wochenmarkt, in Kulturlokalen wie unserem. Man hat Bräuche, die man pflegt.» Daran müsse Wil unbedingt festhalten. «Sonst wird Wil zur Pendlerstadt.» Der Weg, um dazu verhindern: die Kernstadt und ihre zentralen Angebote stärken, ist Loepfe überzeugt.

Macht das etwas mit den Menschen, dieses Dazwischen? Loepfe überlegt. «Ich denke, es weitet den Horizont, fordert aber auch heraus, sich nicht nur über die Nähe zum Anderen zu definieren.» Wie sehr sich die Region St.Gallen sowie Zürich nahe fühlt, zeigte jüngst die Unterzeichnung der Charta Metropolitanraum Bodensee. Die Agglomeration Wil macht mit, ist aber zugleich Teil des Metropolitanraums Zürich. Im Alltag, für Kultur und Wirtschaft sind Kantonsgrenzen unbedeutend oder zumindest zweitrangig. Vereine und Organisationen wie Thurkultur, Regio Wil oder das Wirtschaftsportal Ost leben es vor. Beim 150-Millionen-Franken-Projekt Wil West hingegen harzt es. 2000 Arbeitsplätze sollen entstehen, doch noch fehlen die grossen Unternehmen.

Stärkste Partei im Kantonsrat ist die SVP

Die Stadt Wil würde gerne eine Zentrumsfunktion einnehmen. Im eigenen Wahlkreis ist das jedoch schwierig. Für Degersheimer und Flawiler ist Wil weit weg. Trotzdem hört man in Flawil Aussagen wie diese: «Wir fühlen uns nicht wirklich zu Wil zugehörig, aber wir sind froh, in diesem Wahlkreis zu sein. In St.Gallen würden wir untergehen.» Politisch stehen sich die Gemeinden nahe. Stärkste Partei ist die SVP. Oberbüren stimmt am weitesten rechts, die Stadt Wil moderater, sie schert aber nicht wie St.Gallen nach links aus.

«Die Wiler sind politisch interessiert und politisch erfolgreich», sagt Ruedi Schär. Er arbeitet im Infocenter der Stadt Wil mitten im Städtli. Er kennt Wil wie seine Westentasche, Ende Monat geht er mit 68 Jahren in Pension. Es dauert nicht lange, da fällt der Name Karin Keller-Sutter. Der Stolz auf ihre Bundesrätin ist den Wilern anzumerken. Mit Barbara Gysi und Lukas Reimann stellt Wil zwei Nationalräte, Stadtpräsidentin Susanne Hartmann kandidiert für die St.Galler Regierung. Regierungsrat Marc Mächler lebt in Zuzwil, Stefan Kölliker in Bronschhofen. Das Stadtparlament fördere eine politische Kultur, sagt Schär. Die vielen Äbte, Äbtissinnen und Bischöfe, die Wil hervorgebracht habe, zeigten eine Freude an Führungsverantwortung.

Ein Kompromiss beim Wohnort

Sowohl in der Stadt Wil als auch in den kleineren Gemeinden des Wahlkreises spielen Vereine nach wie vor eine grosse Rolle, traditionsreiche Familien, Beizer und Gewerbler halten das Städtli- und Dorfleben hoch. Doch für viele ist das Dazwischenland Fürstenland heute vor allem Wohnort. Das Ergebnis eines Kompromisses, weil sie in Zürich arbeitet und er in St.Gallen und Wil in der Mitte liegt. Die Identifikation mit dem Wohnort aber fehlt. Gleichzeitig bietet die Region Arbeitsplätze und hat Zupendler: Bühler ist mit Abstand der grösste, aber auch Benninger, Stihl und Maestrani sind grosse Arbeitgeber.

Die Gemeinden stehen vor der Herausforderung, das Dorfleben aufrecht zu erhalten. Familien sind dafür ein Gewinn. Seien es Neuzuzüger in den Einfamilienhausquartieren oder Uzwiler, Oberuzwiler und Jonschwiler, die nach Ausbildung, Studium oder ersten Berufsjahren zurückkehren, um in der Nähe der Grosseltern zu sein. Und weil man schnell überall ist.

Der Wahlkreis Wil in Zahlen

Gemeinden Degersheim, Flawil, Jonschwil, Niederbüren,
Niederhelfenschwil, Oberbüren, Oberuzwil, Uzwil, Wil, Zuzwil


Sitze im Kantonsrat: 18
Stärkste Partei: SVP (2016: 6 Sitze)
Ständige Wohnbevölkerung: 75 594
Ausländeranteil: 23,2%
Bevölkerungsdichte: 520,7 Einwohner/km2
Höchster Punkt: 1060,7 m. ü. M. (Obergampen, Degersheim)
Tiefster Punkt: 470,4 m. ü. M. (Letten an der Thur, Niederhelfenschwil)
Durchschnittsalter: 41,3 Jahre
Beschäftigung: 30 983 Vollzeitäquivalente
Steuerkraft: 2174 Franken/Einwohner

Quelle: Kanton St.Gallen