Mutmassliches Opfer des Kunstturntrainers: «Ich habe ihm vertraut wie einem Vater»

Während in Wil nach der Verhaftung eines Trainers am Regionalen Leistungszentrum Ostschweiz (RLZO) für Kunstturnen die Gerüchte ins Kraut schiessen, geht das minderjährige mutmassliche Opfer der Übergriffe durch die Hölle: «Ich habe mich noch nie so allein gefühlt.»

Odilia Hiller
Drucken
Kunstturnerinnen lernen schon früh, höchste Ansprüche an sich zu stellen. Und die Fassade zu wahren, egal, was passiert. (Symbolbild: Benjamin Manser)

Kunstturnerinnen lernen schon früh, höchste Ansprüche an sich zu stellen. Und die Fassade zu wahren, egal, was passiert. (Symbolbild: Benjamin Manser)

Sie möchte reden. «Weil mir niemand glaubt. Weil sie denken, ich will ihn loswerden.» Die 17-jährige Kunstturnerin sagt: «Ich habe meinen Trainer angezeigt, weil er mich sexuell missbraucht hat.» Sie ist am Freitag hingestanden. Im Regionalen Leistungszentrum Ostschweiz (RLZO) hat sie sich aus freien Stücken den Eltern ihrer Mitturnerinnen und Mitturner gestellt, erzählt sie. Bestätigt ihr Vater. Bestätigen andere. Sie tut es, um sich zu erklären. Um zu sagen: Ja, ich bin es, die Anzeige gegen ihn eingereicht hat. Und ich will euch sagen, was er gemacht hat.

Was dann passiert, lässt sowohl das Mädchen als auch ihren Vater und weitere Vertraute sprachlos zurück. «Sie hassen mich. Die Blicke, die sie mir zuwerfen.» Sie sagt: Ein beträchtlicher Teil der Eltern der anderen Turnerinnen und Turner bezichtige sie mehr oder weniger offen der Lüge. «Sie glauben mir einfach nicht. Warum sollte ich so etwas Schlimmes erfinden? Das würde ich doch nie tun.»

«Niemand ist auf meiner Seite»

Ob sie es beweisen könne, sei sie von Eltern gefragt worden. Und warum sie es nicht früher gesagt habe. Einige hätten offen gesagt, dass es besser wäre, sie käme nicht mehr ins Training - damit die anderen Kinder in Ruhe und ohne Ablenkung weiter trainieren könnten. «Niemand ist auf meiner Seite», sagt sie.

Die Halle ist der Ort, wo sie seit vielen Jahren über fünf Stunden täglich trainiert. Wo sie mit Hilfe ihres Trainers, der für sie war «wie ein zweiter Vater», unter Aufwendung ihrer letzten Kräfte am grossen Traum von der Spitzensportkarriere als Kunstturnerin feilt.

«Mein zweites Zuhause.»

«Es ist sehr schwer für mich», sagt sie gefasst. Es habe sich über mehrere Jahre aufgebaut, schon vor jenem Abend vor gut 1,5 Jahren, als sie 15 Jahre alt war. Es habe angefangen mit Sprüchen, dreckigen Witzen, später mit seinen Händen an ihrer Hüfte oder auch mal weiter unten. Oft habe er versucht, sie zu küssen. Dann die Liebesbekundungen seinerseits: «I love you.» Das habe er immer wieder zu ihr gesagt. «Woher sollte ich wissen, wie er das meint? Ich habe ihm vertraut wie einem Vater», sagt sie. Aber auch: «Ich habe immer gespürt, dass das nicht o.k. ist.»

Mit Alkohol gefügig gemacht?

Über den schlimmen Abend im Jahr 2017 möchte sie eigentlich gar nicht reden. Es sei bei ihm zu Hause passiert, er habe sie unter dem Vorwand, sie müsse ihm bei etwas helfen, zu sich gelockt. Er soll ihr Alkohol gegeben haben, bis sie aufhörte sich zu wehren. Erstmals seien seine Hände in ihrer Intimgegend gewesen, sagt sie. Der Trainer sitzt nun in Untersuchungshaft. Den Antrag darauf musste die Staatsanwaltschaft stellen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Warum sie es nicht früher erzählt habe? Der Trainer habe ihr am nächsten Tag gesagt, sie dürfe es niemandem erzählen. Weil das ihm und ihr sehr schaden könnte. Sie hielt sich eineinhalb Jahre daran. «Ich wollte die anderen Turnerinnen schützen. Und seine Frau. Sie ist ja auch meine Trainerin.»

«Ich weine jeden Abend»

Sie bereue nicht, dass sie es nun gesagt habe. Aber nun weine sie jeden Abend beim Gedanken, dass ihr Trainer, «der sehr wichtig ist für mich», wegen ihr im Gefängnis sitze. «Ich wusste, dass ich dem Betrieb an unserem Trainingszentrum schade, wenn ich es erzähle. Das wollte ich nicht.» Schon bald finde ein wichtiger Kadertest statt. «Ich hätte mir gewünscht, dass die anderen Mädchen da sorglos hin können.»