TRINKKULTUR: Goldmedaille für St.Galler im Kaffeetrinken

Die St.Gallerinnen und St.Galler sind Schweizer Meister im Kaffeetrinken. Mit Genuss hat das wenig zu tun, dafür viel mit Fleiss.

Adrian Vögele
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Ein guter Kaffee - für viele geht es nicht ohne. (Bild: STEFAN MEYER (KEYSTONE))

Ein guter Kaffee - für viele geht es nicht ohne. (Bild: STEFAN MEYER (KEYSTONE))

Adrian Vögele

adrian.voegele

@tagblatt.ch

Willkommen in der Kaffeepause. Es gibt sensationelle Neuigkeiten, jedenfalls aus St.Galler Sicht: Goldmedaille! Wir haben es allen gezeigt. Endlich sind wir wieder mal Spitze, und das mit grossem Vorsprung. «Schweizer Meister im Kaffeetrinken», diese Auszeichnung dürfen wir ab sofort tragen. 2,28 Tassen Kaffee leeren wir laut einer Studie durchschnittlich pro Tag. Das sind 40 Prozent mehr als bei den Zürchern, die es auf 1,66 Tassen pro Person und damit auf Platz zwei schaffen. Zwar geben wir der Fairness halber gerne zu, dass der Kanton Zürich punkto Gesamtmenge klar vorne liegt. Über 1,3 Millionen Kaffees werden dort täglich getrunken, gut doppelt so viele wie in St.Gallen. Doch für die Preisrichter ist anscheinend klar: Auf den Pro-Kopf-Konsum kommt es an – darum würdigen sie uns St.Galler als «die mit Abstand grössten Kaffeegeniesser der Schweiz». Da bekommt man glatt Nervenflattern (oder ist das nur das Koffein?). Sind wir schon für die Weltmeisterschaft angemeldet? Kommt es zum Final gegen die Wiener oder die Römer?

Aber Moment – die Sache hat einen Haken. Die Grundlage für das Bestimmen des Schweizer Meisters – der Kaffeesatz quasi – stammt aus Selbstbedienungsautomaten. Die Firma Selecta betreibt 16000 Kaffeeautomaten in der ganzen Schweiz. Diese böten einen «einzigartigen Datenpool zum Kaffeetrinkverhalten», schreibt das Unternehmen. Mit Hilfe von Statistiken zur Zahl der Arbeitnehmer, zu Betriebsgrössen und deren Verteilung könne man die Selecta-Daten auf kantonale und nationale Werte hochrechnen. Damit wird jedoch nicht der gesamte Kaffeekonsum erfasst, sondern nur das Trinkverhalten «am Arbeitsplatz und unterwegs» – dort, wo Selbstbedienungsautomaten eben typischerweise genutzt werden.

Zugegeben: Dieser «Kaffee-Index» ist eine Pionierleistung. Nicht einmal der Branchenverband Cafetiersuisse verfügt über eine Statistik des Kaffeekonsums nach Kantonen. Wer schon lange auf eine regionale Aufschlüsselung gewartet hat, kann nun aufatmen: Dieses Ranking bietet immerhin Anhaltspunkte. Auch zugegeben: Die Selbstbedienungsautomaten sind nicht mehr das, was sie mal waren. Die Zeiten, als man Bouillon, Cappuccino oder Schwarztee rauslassen konnte und alles ungefähr gleich schmeckte, sind längst vorbei. Die Getränke aus diesen Geräten werden immer besser.

Doch am Arbeitsplatz ist der Kaffee für viele vor allem zweierlei: koffeinhaltiger Betriebsstoff und Grund zur Pause. Dass die St.Galler besonders viel davon trinken, hat vielleicht mehr mit ihrer Arbeitsmoral zu tun als mit ihrem Geschmack. Womit sich bereits das nächste Rätsel stellt: Sind wir nun eher besonders fleissig, machen ständig Überstunden und brauchen darum viel Koffein? Oder spazieren wir eher bei jedweder Gelegenheit zum Automaten und vertrödeln so mehr Zeit als andere Eidgenossen? Wohl Ersteres, wenn man das Klischee des gewissenhaften und zielstrebigen Ostschweizers für bare Münze nimmt. Jedenfalls: Bewusst und meisterhaft «genossen» wird ein Kaffee in der Regel nicht im Büro, sondern woanders.

Barista kämpft gegen den Café crème

Aber vielleicht lässt sich die just begründete Legende vom «Kaffeegeniesserkanton» St.Gallen ja doch noch retten. Zumindest in der Stadt St.Gallen reicht die Geschichte des Getränks weit zurück. Die Firma Turm-Kaffee ist seit über 250 Jahren im Geschäft und bezeichnet sich als älteste Kaffeerösterei der Schweiz. Geradezu ein Embryo ist im Vergleich dazu das «Kaffeehaus» im Linsebühl-Quartier, gegründet 2010. Dessen Betreiber Gallus Hufenus hat sich jedoch innert kurzer Zeit zum leidenschaftlichen Barista (Kaffeezubereiter) und gefragten Experten rund um Kaffeekultur gemausert. Wie schätzt er die St.Galler als Kaffeetrinker ein? «Unser Kanton hat dasselbe Problem wie die gesamte Deutschschweiz», sagt Hufenus, während er an seiner glänzenden «La Marzocco»-Kaffeemaschine hantiert. Es werde zwar sehr viel Kaffee getrunken, dieser sei aber oft falsch zubereitet. Hufenus nennt den Feind beim Namen: «Café crème!» Bei der Anfertigung dieses Schweizer Standardkaffees werde allenthalben viel zu viel Wasser durch das Kaffeepulver gepresst. «Dabei wird der Kaffee ausgeschwemmt und verliert viel Aroma.» Der Barista schüttelt den Kopf. «Kaffee trinkt man doch nicht gegen den Durst.» Wenn es schon ein «verlängerter» Kaffee sein müsse, dann bitte in der Variante «Americano»: Zuerst wird ein Espresso zubereitet – und erst nachher wird er mit Wasser verdünnt. (Das kommt für Sie aufs selbe raus? Sagen Sie das mal einem Barista...)

Hufenus eröffnete sein Lokal, um die Kaffeehauskultur aus der Zeit der St.Galler Stickereiblüte neu zu beleben. «Als ich anfing, bekam man fast nirgends in der Stadt anständigen Kaffee», erinnert er sich. Doch inzwischen habe sich etwas getan. «Jetzt gibt es eine ganze Reihe von Cafés und Restaurants, die es sehr gut machen.» Auch das Verhalten und die Ansprüche der Konsumenten hätten sich verändert. «Immer mehr Leute interessieren sich dafür, wie man richtigen Kaffee zubereitet und erkundigen sich bei mir.» Nicht wenige hätten inzwischen genug von Kapselzeug, Kartonbechern und automatisch hergestellten Heissgetränken. Aber eine flächendeckende Bewegung ist das nicht. «Vor allem auf dem Land gibt es punkto Kaffeequalität noch viel Luft nach oben.»

Schlangestehen für guten Espresso

Apropos Kapselzeug: St.Gallen ist haarscharf daran vorbeigeschrammt, zur Hochburg des Pulverkaffees zu werden. Kurz bevor Nestlé im Jahr 1938 den «Nescafé» lancierte, versuchte ein St.Galler Importeur hierzulande den «G. Washington’s Instant Coffee» aus Amerika einzuführen – verteilt auf Einzelportionen in, tja, Aluminiumkapseln. Die Sache scheiterte an zu hohen Zöllen und Preisen. Und vielleicht auch am zweifelhaften Ruf des US-Kaffees im Allgemeinen, von US-Pulverkaffee ganz zu schweigen.

Gallus Hufenus ist dagegen, dass man schlechten Kaffee trinkt, nur weil man keine Zeit hat. Bei ihm kehren längst nicht nur Müssiggänger ein, sondern auch das arbeitende Volk: Unweit des «Kaffeehauses» steht ein grosser Bürokomplex der Kantonsverwaltung. «Wenn sie Pause haben, kommen die Angestellten jeweils reihenweise hierher, kippen an der Theke einen Espresso und gehen dann wieder. Genau so funktioniert es auch in Italien.» Das ist für Hufenus die richtige Antwort auf das allgegenwärtige «Coffee to go»-Angebot. Gleichzeitig räumt er ein, dass das neue Interesse am «echten» Kaffee auch sonderbare Blüten treibt. «Manche kaufen nun Kaffeemaschinen wie andere teure Autos.» Aber mit der Technik allein sei es nicht getan. Man müsse das Gerät auch bedienen können.

Zugleich gibt es Zeitgenossen, denen der Kaffeekult derart zuwider ist, dass sie das Gegenteil zelebrieren und stets den ältesten verfügbaren Automaten aufsuchen. Auch unter Journalisten übrigens, die traditionsgemäss ein enges Verhältnis zum Kaffee haben.

Die wichtigste Zutat schmeckt nach nichts

Doch selbst Kaffeekenner trinken das schwarze Getränk bisweilen auch aus Gründen, die mit Genuss wenig zu tun haben. «Ohne Koffein bekomme ich Migräne», sagt Gallus Hufenus. Ein heisses Thema: Die Wirkung des Kaffees auf den Körper wurde über Jahrhunderte intensiv diskutiert. Noch 1910 warnte ein Arzt an einem Vortrag in St.Gallen: Der Kaffee sei eine «grosse Gefahr für die Gesundheit des Volkes».

Die heutigen Mediziner sehen das entspannter. Am Kantonsspital St.Gallen haben die Ärzte vor zwei Jahren gar ihren eigenen Kaffeekonsum analysiert – mit einer nicht ganz ernst gemeinten, aber dennoch fundierten Studie. Erhoben wurde das Kaufverhalten der Ärzte in den Spital-Cafeterias. Am meisten Kaffee pro Kopf holten die Orthopäden, gefolgt von den Radiologen und Chirurgen. Die Selbstbedienungsautomaten im Spital waren von der Analyse ausgeschlossen. Die Begründung in der Studie: «Wir glauben nicht, dass dieses Gebräu den Namen ‹Kaffee› verdient.»

Auch wenn sich über Geschmack endlos streiten lässt – die wichtigste Eigenschaft des Kaffees ist völlig unabhängig von seiner Machart: Er bringt die Leute zusammen. Als Gallus Hufenus sein Kaffeehaus eröffnete, verfolgte er zunächst nicht in erster Linie ein kulinarisches, sondern ein gesellschaftliches Ziel. «Wenn wir sagen ‹Lass uns einen Kaffee trinken gehen›, meinen wir eigentlich: ‹Lass uns reden, planen, die Welt verändern.›» Diese Disziplin werde in der Deutschschweiz, auch in St.Gallen, eifrig gepflegt. «Nun gilt es noch, die Qualität des Begleitgetränks zu verbessern.» Und doch: Es gebe hin und wieder auch Situationen, in denen ein Kaffee sehr gut schmecke, obwohl er nicht unbedingt liebevoll hergestellt sei.

Damit ist auch die Ehre des Selbstbedienungsautomaten gerettet. Nicht auszudenken, wie viele schicksalshafte Begegnungen sich an diesen diskret summenden Geräten schon abgespielt haben. Erinnern Sie sich? Haben Sie Herzklopfen? Ist wohl nur das Koffein.