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Eine fallende Tanne hat das Herrenluftbad der einstigen Kuranstalt Sennrüti in Degersheim unter sich begraben.
Es war der Ischias, der Hermann Hesse im Oktober 1922 aus dem Tessin zur Kur nach Degersheim führte. Angetan war er allerdings weder vom Ort noch von der Therapie: Die Kur mache ihn elend und schwindelig, in der therapiefreien Zeit sei ihm öd und der Nebel schlucke allen Landschaftsreiz, soll er sich brieflich einem Freund anvertraut haben. Das Gefühl des Elends kennt auch Erwin Frischknecht. Er ist einer der vier Eigentümer der Wald- und Wiesenparzellen um das ehemalige Herrenluftbad auf dem Wolfensberg. Angesprochen auf das bauliche Relikt aus der Blütezeit der «Sennrüti» sagt er: «Man hat eigentlich nur Ärger damit.»
Kein Wunder, das offene Holzgebäude, in dem sich die feinen Herren einst in der Sonne geräkelt und voralpine Luft geatmet hatten, liegt in einer schwer einsehbaren Lichtung südwestlich des Hotels Wolfensberg auf Neckertaler Boden. Ein beschaulicher Ort, aber auch ein Magnet für Vandalen. «Immer wieder kam es vor, das Bretter aus dem Boden gehebelt und als Feuerholz genutzt wurden», sagt Frischknecht. Wiederholt seien Bauteile mutwillig zerstört und Wände verkritzelt worden.
Mit alledem ist nun Schluss. Der Wintersturm Sabine hat hoch über Degersheim vernichtende Arbeit geleistet. Zahlreiche Bäume liegen kreuz und quer im Wald – einer, eine Rottanne, ist während des Orkans exakt auf das Dach des Herrenluftbads gestürzt.
Das Gebäude ist nicht mehr zu retten. Da macht sich auch Erwin Frischknecht keine Illusionen. «Es bleibt einzig der Abriss», sagt er. Mit den weiteren Grundeigentümern hat er sich diesbezüglich zwar noch nicht verständigt, er geht aber davon aus, dass sie seine Meinung teilen. Einen Wiederaufbau kann er sich nicht vorstellen: «Wofür auch?», fragt er.
Aufgeräumt werden soll möglichst schnell. «Sobald die nötigen Abklärungen getroffen und die konkreten Massnahmen beschlossen sind», sagt Erwin Frischknecht. Wissend, dass das Gebäude im derzeitigen Zustand einsturzgefährdet und das Betreten gefährlich ist.
Tatsächlich bietet sich auf dem Schadenplatz ein Bild der Zerstörung. Die gross gewachsene Tanne hat das Dach durchschlagen, Stützbalken und Wände zum Einsturz gebracht. Überall liegen Teile des geborstenen Welleternits und unter abgebrochenem Astwerk sind zwischen Tannzapfen und Grünzeug rostige Nägel auszumachen. Erkaltete Kohle in der improvisierten Feuerstelle erinnert ans letzte Nacht- oder Grillfeuer.
Die Kritik Hesses an seinem Kuraufenthalt liest sich harsch. Andere schworen auf die Anwendungen in der von Stickereifabrikant Isidor Grauer-Frey initiierten und gegründeten «Kuranstalt für das physikalisch- dietätische Heilverfahren». Ein im Heft «Kuranstalt Sennrüti» aus den frühen 1950er-Jahren aufgeführter und auf der Online-Kulturseite des St.Galler Staatsarchivs publizierter Kurplan gewährt Einblick in den Alltag der internationalen Gäste.
Obwohl individuell zusammengesetzt, enthielt er bestimmte, bei allen Patientinnen und Patienten angewendete Elemente. «Diese bestanden aus einem frühmorgendlichen Luftbad in Verbindung mit Gesundheits- und Atemgymnastik. Am Vormittag wurden dann jene Anwendungen genommen, welche der Erneuerung und Belebung des Organismus dienen.»
In der zweiten Tageshälfte folgten die Sonnenbäder in der Badanstalt. «Nach 10 bis 40 Minuten wurden die Kurgäste in Wolldecken gewickelt und blieben so lange in der Sonne liegen, bis sie schwitzten. Hernach waren Halbbad, Spaziergang und Ausruhen angesagt.
Unversehrt geblieben ist übrigens das Frauenluftbad auf der nordöstlichen Seite Degersheims. Es gehört der Genossenschaft Herzfeld Sennrüti, wird aber öffentlich genutzt und von der politischen Gemeinde teilweise unterhalten.