Pädagogik
Mehr Bewegung für mehr Köpfchen: Lichtensteiger Primarschüler lernen künftig auf Netzen

Mit dem Forschungsprojekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» soll dem statischen Sitzen am Pult ein Ende gesetzt werden. Untersucht werden unter anderem die Auswirkungen auf Lernverhalten und Unterrichtskultur.

Gabriela Schmid
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Die «Netzwelten» sollen an der Jost Bürgi Schule als erweiterte Lernräume genutzt werden.

Die «Netzwelten» sollen an der Jost Bürgi Schule als erweiterte Lernräume genutzt werden.

Bild: Gabriela Schmid

«Früher wurde von den Kindern erwartet, dass sie brav auf ihrem Stuhl sitzen und tun, was ihnen befohlen wird. Diese Zeiten sind vorbei», sagt Andrea Müller, Schulleiterin der Primarschule in Lichtensteig. Seit Anfang Januar beteiligt sich die Jost Bürgi Schule am Forschungsprojekt «Netzwelten – Lernen in Bewegung» der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW). Dessen Ziel: Dem Bewegungsmangel entgegenzuwirken und gleichzeitig die Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern.

Wie der Name des Projektes schon verrät, spielen Netze hierbei eine zentrale Rolle. «Die meisten Schulen haben Platzprobleme», erklärt Karin Manz, Leiterin Professur für Unterrichtsentwicklung und -­forschung am Institut Primarstufe der PH FHNW. Als raumgestaltende Elemente sollen die speziell gefertigten Strukturen in die Klassenzimmer integriert werden und sowohl Lern- als auch Rückzugsort sein. «Ungenutzter Luftraum erhält dadurch eine neue Verwendung», so Manz.

Die Prototypen wurden auf Modellen basiert, die die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld entwickelt haben.

Die Prototypen wurden auf Modellen basiert, die die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld entwickelt haben.

Bild: Gabriela Schmid

Das Projekt läuft bis März 2023 und wird eng von einem Forschungsteam der PH FHNW begleitet. Erste provisorische Netze wurden am vergangenen Montag innerhalb mobiler, würfelförmiger Metallrahmen in der Turnhalle installiert. Während der ersten Projektwoche hatte eine Schulklasse der Mittelstufe die Möglichkeit, dort in kleinen Gruppen abwechselnd Lernaufgaben zu lösen. «Die Schülerinnen und Schüler sind sehr begeistert», erzählt Müller.

Entwickelt wurden die Netzwelten in Kooperation mit zwei Schweizer Unternehmen – der Jakob Rope Systems AG und der Novex AG. Dank ihrem metallischen Kern können die dehnungsarmen Seile ein Gewicht von mehreren Tonnen tragen. Sie durchzuschneiden oder zu zerreissen, ist praktisch unmöglich. Die begehbaren Ebenen sind zudem so konzipiert, dass die Kinder für die Lehrpersonen darin gut sichtbar sind.

Positiv für Gesundheit und Lernverhalten

Karin Manz, Leiterin Professur für Unterrichtsentwicklung und-forschung an der PH FHNW.

Karin Manz, Leiterin Professur für Unterrichtsentwicklung und
-forschung an der PH FHNW.

Bild: PD

Doch wieso ist Bewegung im Klassenzimmer überhaupt so wichtig? «Schweizweit leiden 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen an Übergewicht, davon gut ein Fünftel an Fettleibigkeit», sagt Manz. Das liege unter anderem daran, dass sie tagsüber bis zu 90 Prozent ihrer Zeit sitzend oder liegend verbringen – einen Grossteil dieser Zeit in der Schule. Karin Manz ist überzeugt:

«Wenn sich die Kinder in der Schule regelmässig bewegen, wirkt sich das positiv auf ihre sportliche Aktivität in der Freizeit aus.»

Ferner bedürfe jedes vierte Schulkind laut Manz spezieller Förderung, zum Beispiel aufgrund einer Lese- oder Rechenstörung: «Darunter sind rund fünf Prozent hyperaktive Kinder mit Diagnose ADS oder ADHS.» Die Tendenz sei steigend. «Erkenntnisse der Hirnforschung weisen deutlich darauf hin, dass ein Mangel an Bewegung das Lernvermögen zusätzlich beeinträchtigt», ergänzt die Professorin.

Sowohl das Bewegen in den «Netzwelten» als auch das Sitzen ist fördernd, wie Manz erklärt. «Wenn sich jemand an einem Ende bewegt, hat das auf alle, die sich auf dem Netz befinden, einen Einfluss.» So werden spielerisch Motorik und Gleichgewicht trainiert. Das sanfte Schaukeln beim Lernen wirke zudem nicht nur beruhigend, sondern auch stimulierend:

«Das Gefühl des ‹Getragen-Seins› kann eine seelische und psychische Balance bewirken.»

Sicherheit geniesst oberste Priorität

Andrea Müller, Schulleiterin Jost Bürgi Schule Lichtensteig.

Andrea Müller, Schulleiterin Jost Bürgi Schule Lichtensteig.

Bild: PD

Sport im Schulalltag wird in Lichtensteig bereits seit Jahren gefördert. Ob Purzelbaumkindergarten oder Lerneinheiten mit Bewegungssequenzen – Andrea Müller sagt:

«Das Konzept der ‹bewegten Schule› hat sich bei uns bewährt.»

Mit den Netzwelten werde die offene Unterrichtskultur nun erweitert. Einen Leitfaden, wann die Netze genau zur Anwendung kommen, gibt es noch nicht. «Das wird sich in den kommenden Monaten durch die Praxis konkretisieren.»

Und was sagen die Eltern dazu? «Bisher gab es nur vereinzeltes Feedback», so Müller. Besonders das Thema Sicherheit habe für Rückfragen gesorgt. In diesem Zusammenhang müsse man keine Bedenken haben, versichert Manz. «Wir arbeiten mit Thomas Ferwagner von Officium Design Engineering zusammen, einem internationalen Spezialisten für begehbare Netze.» Ziel sei es, dass die Netze auch ohne Beaufsichtigung genutzt werden können.

Studie mit weitem Horizont

In den Sommerferien werden die Netze, mit Hilfe des Architekten Andreas Hammon aus Mogelsberg, fest in den Klassenzimmern und Fluren angebracht. Um zu untersuchen, wie sich das kognitive Lernen, die Konzentration und das Wohlbefinden der Kinder sowie die Unterrichtskultur verändern, erhebt das Forschungsteam während einer mehrwöchigen Beobachtungsphase laufend Daten. «Es handelt sich um eine klassische sozialwissenschaftliche Untersuchung», sagt Manz:

«Wir arbeiten mit teilnehmender Beobachtung, Interviews, Umfragen und Elementen, wie dem ‹Netztagebuch›. Dort können die Kinder nach einer Lerneinheit in der Netzwelt ihre Gedanken und Gefühle festhalten.»

Zum Schluss entwickelt die PH FHNW für diverse Zielgruppen wie Schulleitungen und Lehrpersonal pädagogisch-didaktische Anleitungen zu den Netzwelten, aber auch Informationen für Bauherren und politische Verantwortliche. Denn die Primarschule Lichtensteig ist laut Karin Manz Teil einer grösseren Vision: «Die Idee der Netzwelten soll in möglichst vielen Schulen umgesetzt werden können.»