Musical
Zwei Welten in der Tonhalle: Perfektion trifft auf anarchisches Drecksloch

Der junge Wiler Verein «vorderste Reihe» begeisterte mit seinem zweiten selbst geschriebenen Musical die ausverkaufte Tonhalle.

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In Bellacrita wird der Schönling Gaston von zahlreichen Frauen umworben.

In Bellacrita wird der Schönling Gaston von zahlreichen Frauen umworben.

Bild: PD

Man fühlte sich in eine dystopische Zukunft à la «1984» von George Orwell versetzt, als die ersten Takte des Musicals «Das Bivalenzprinzip» erklangen – eine Zukunft, in der Menschen den ganzen Tag von einer unsichtbaren Stimme bewertet werden. Wehe, man lächelt einmal nicht völlig übertrieben oder stutzt seinen Rasen nicht millimetergenau: Die Bestrafung des durchaus charmanten Diktators Frank folgt auf der Stelle.

Eine solche Welt birgt verständlicherweise eine Menge Konfliktpotenzial. Rebellierende Teenagerinnen, unerfüllte Träume, frustrierte Verlierer, die von der Gesellschaft vergessen werden. Man spürte an der Premiere: Da wird wohl bald eine Bombe platzen.

Radikaler Stilbruch

Und so kam es dann auch. Im zweiten Akt wartete das Ensemble mit einer radikal anderen Bildsprache auf. Die sanften Pastelltöne der perfekten Stadt wichen grellem Neon und schmutzigem Schwarz, das Setting kein Einfamilienhausquartier mehr, sondern ein anarchisches Drecksloch, bewohnt von verlorenen Künstlern, Alkoholikerinnen und Möchtegern-Rockstars.

Rebellin Tara hat genug von der perfekten Stadt und flieht in die Anarchie.

Rebellin Tara hat genug von der perfekten Stadt und flieht in die Anarchie.

Bild: PD

Auch musikalisch kippte die Stimmung. Zu hören gab es im ersten Akt Geige, Bläser, Piano – im zweiten Akt spielten E-Gitarre und Schlagzeug, Rap und treibende Märsche eine prominente Rolle. Der Stilbruch war beeindruckend und wurde von der zehnköpfigen Band unter der Leitung von Dirigentin Florence Gemperli ebenso souverän getragen wie von den Schauspielern und Solisten, die einen immer wieder vergessen liessen, dass hier kein professionelles Ensemble, sondern ein junger Wiler Verein auf der Bühne steht.

Keine dritte Option

Beeindruckend wirkte dabei auch die mehrere Meter breite LED-Wand, auf der die beiden Welten stimmungsvoll aufleuchteten. Im ersten Akt waren darauf gepflegte Hausfassaden zu sehen, im zweiten Akt Mülltonnen, Graffiti und verbogene Fahrräder, denen ein Rad fehlt. Kostüme, Requisiten, Kulissen: Alles passte zum Thema, welches «Das Bivalenzprinzip» durchzog: Es gibt immer zwei Welten, zwischen denen man sich entscheiden muss, es gibt keine dritte Option. Das Publikum entschied sich dabei auf alle Fälle für die Option «tosender Applaus». (pd)

Das «Bivalenzprinzip» ist kommendes Wochenende noch zweimal auf der Bühne der Tonhalle zu sehen.