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Toggenburg
Von 1920 bis 1951 erschien der «Kirchenboten für das evangelische Toggenburg». Er nimmt den Betrachter nicht nur mit in eine andere Zeit, er ist ebenfalls eine Fundgrube der Lokalgeschichte.
Ein Zwinglikopf und das Geburtshaus des Reformators: Mit diesem «Logo» des berühmten Wildhausers Huldrych Zwingli tritt der Toggenburger Kirchenbote im Juli 1920 auf. Kirchenvorsteher haben die achtseitige Probenummer lanciert. Sie wollen damit den «neuzeitlichen Aufgaben» der Kirche gerecht werden. Diese müsse eine «Dienerin an der Volksseele» sein. Herausgeber sind die Pfarrer im Toggenburg, das «Kapitel Toggenburg». Es bestimmt eine Redaktionskommission.
Ab Januar 1921 erscheint der Kirchenbote (Kibo) bis im Advent 1951 erst sechs, später bis zehn Mal jährlich. Unter dem Titel «Was wir wollen» beschreibt Pfarrer Theodor Hasler aus Wil, der erste «Kibo-Chefredaktor», das Programm: Es geht um die «Erneuerung und Vertiefung unseres evangelischen Glaubens».
Nicht alle Kirchgemeinden wollen einen Kibo. Aber schon im ersten Jahrgang werden neben dem Toggenburg auch die Bezirke See und Gaster bedient, später reicht er bis nach Gossau und Gaiserwald. Die Zahl der Leser beträgt anfangs 4300, mit dem Hinzukommen weiterer Gemeinden steigt sie auf rund 10'000. Alle 231 erschienenen Nummern werden in der Buchdruckerei Flawil AG gedruckt. Finanziert wird der Kibo über Abopreise, welche die Gemeinden bezahlen.
Für heutige Augen sind die Nummern eine «Bleiwüste»: Dicht gedrängt stehen die Zeilen in Frakturschrift. Lesehilfe bieten grosse Titel sowie Zitate, welche die Seiten eröffnen: «Der Toggenburger folgt der Vernunft» ist der allererste dieser Sinnsprüche. Die Blattarchitektur sieht einen Leitartikel vor, der bis auf die zweite Seite läuft. Dabei geht es oft um kirchliche Festtage, aber auch Titel wie «Vom Fluch des Fluchens» oder «Der Mensch und der Motor» kommen vor.
Danach folgen weitere Beiträge zu kirchlichen und gesellschaftlichen Themen. Zum Beispiel geht es um «Kirche und Sekten», den «Protestantismus in Österreich» oder «Von der Patenschaft». Es folgen Kirchennachrichten aus dem Kanton und dem In- und Ausland. Gegen Ende des Kibo kommt die Chronik «Aus unseren Gemeinden».
Der Toggenburger Kirchenbote hat in seiner Geschichte einen Rechtsfall, der ihn offensichtlich teuer zu stehen kommt. Beim vom Gericht verfügten Abdruck des Urteils bitten die Herausgeber nämlich um die Spende eines «Anti-Bar-Franken». Das gesammelte Geld soll die finanziellen Folgen der Ehrverletzungsklage gegen den Autor eines im Kirchenboten erschienenen Textes mildern. Walter Gerosa, Blaukreuzfürsorger für die Kantone St. Gallen und Appenzell, wettert darin über Dancing-Bar-Lokale: «Es sind Lasterhöhlen, wo allem Niedern Vorschub geleistet wird.»
Walter Gerosa verfasst unter dem Titel «Armes Toggenburg» in der Märznummer 1948 ein typisches Dokument im «Kampf gegen den Alkohol». Es ist eine Auftragsarbeit, weil sich die Toggenburger Pfarrer über das Aufkommen von Bars ärgerten. Er nennt darin eine «Sonnen»- oder «Sternen»-Bar und bezeichnet sie als «muffige Brutstätten des Lasters».
Dagegen reichte der Wildhauser Hotelier Emil Keller, der die «Sonne» betreibt, Klage ein. Das Bezirksgericht weist diese ab. Keller zieht das Urteil weiter, und in zweiter Instanz gibt das Kantonsgericht der Klage statt. Walter Gerosa wird wegen «übler Nachrede» zu einer Busse von 80 Franken verurteilt. Dem Beklagten wird zugutegehalten, er habe aus einem «achtbaren Motiv» gehandelt, nämlich die «Auswüchse des Barwesens» zu bekämpfen.
Die für die Herausgabe verantwortliche Kommission stellt sich hinter den Autor. Man ist sich einig, dass «sachlich nichts zu bedauern und zurückzunehmen ist», heisst es in einem internen Papier. Der Angriff sei aber etwas persönlich und scharf gewesen. Der Kirchenbote stellt den Walter-Gerosa-Text in den Zusammenhang des «körperlichen und moralischen Schutzes unserer Jugend».
Walter Gerosa bleibt bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1979 Blaukreuzfürsorger. Zudem sitzt er als Parteiloser für acht Jahre im Nationalrat und setzt sich dabei aus christlichen Motiven unter anderem für Militärdienstverweigerer ein.
Diese sind eine Fundgrube der Lokalgeschichte. Ein Chronist aus der Redaktion sammelt minutiös Nachrichten von Wildhaus bis Gaiserwald. Man liest darin von der Berufung des Nesslauer Pfarrers Eduard Schweizer zum Professor, aber auch vom 200-Jahre-Jubiläum der Kirche Krinau und dem «Altersfestchen» in Gossau.
Der Toggenburger Kibo erscheint in einer spannungsvollen Zeit, was sich in den Themen im Blatt spiegelt. Immer wieder spürbar ist der konfessionelle Konflikt. Die reformierte Landbevölkerung im Thurtal wird bis zur St.Galler Kantonsgründung im Jahr 1805 von einer zahlenmässig kleinen katholischen Herrschaft systematisch benachteiligt.
Diese wehren sich, und daraus entstehen Helden wie etwa der Lichtensteiger Pfarrer Jeremias Braun. Dieser wird Mitte des 17. Jahrhunderts vom katholischen Landvogt wegen «Gotteslästerung» ins Gefängnis geworfen, kommt aber frei. Immer wieder werden im Kibo Geschichten des erfolgreichen Widerstands aufgewärmt.
Auch innerhalb der protestantischen Kirche ist viel in Bewegung. Der Theologe Karl Barth schafft um 1920 die einflussreiche Strömung der «dialektischen Theologie». Das führt zu heftigen Auseinandersetzungen, deren Spuren etwa in einem Leitartikel vom Pfarrer und Barth-Kameraden Eduard Thurneysen sichtbar sind. Er eröffnet die zwölfseitige Sondernummer zum 400-jährigen Bestehen der Versammlung der Toggenburger Pfarrerschaft im Februar 1929.
Schliesslich ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs stark präsent. Der Kibo druckt in dieser Zeit mehrfach eindringliche sozialkritische Bilder von Willy Fries. Aber auch Texte wie «Wenn der Teufel los ist!» oder der «Brief aus dem Militärdienst» eines Feldpredigers stellen einen klaren Bezug zum Kriegsgeschehen her.
Gegen Ende der 1940er-Jahre kommt von der Kantonalkirche die Initiative für einen sanktgallischen Kirchenboten. Man möchte «ein gemeinsames Band» für den uneinheitlichen Kanton. Mit dem Slogan «Nein dem geplanten Einheitskirchenboten» kommt jedoch Widerstand aus dem Toggenburg. Der Kirchenrat antwortet den Toggenburger mit einem Rügebrief.
Schliesslich lenkt man ein: Auf das Jahr 1952 wird Pfarrer Carl Gsell, bisher Redaktor des Toggenburger Kibo, Leiter des kantonalen Kirchenboten.