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Ostschweiz
Die Meinungen zu diesem Thema gehen weit auseinander: Der Bauernverband setzt auf Eigeninitiative, derweil die St.Galler Jäger und Umweltorganisationen Stacheldraht und ungenutzte Zäune grundsätzlich verbieten wollen.
90 Liter pro Quadratmeter Regen sind hier in der ersten Wochenhälfte heruntergekommen. Im Gossauer Gebiet Rain kämpfen sechs Zivilschützer an diesem Mittwoch morgen aber nicht mit dem englischen Ortsbegriff, sondern mit einem alten Drahtzaun am Waldrand. In Gebüsche eingewachsen und teilweise ganz im Boden verschwunden, ist der Abbau des Zauns eine mühsame Arbeit; an manchen Stellen ist das Knotengitter mit Maschendraht ersetzt worden, was erst recht kleinräumige Schnitte erfordert. Die Männergruppe, angeführt von Oberleutnant Michel Kaiser, ist trotzdem freudig an der Sache, «es gibt weniger sinnvolle Arbeiten im Zivilschutz». 300 Meter weggeräumter Zaun werden es am Freitagabend sein, ab aufs Alteisen.
Pächter Kurt Breitenmoser, Landwirt im nahen Fennhof, fühlt sich ein wenig komisch, wie er grinsend sagt: «Weil sie meine Arbeit machen.» Sein Schamgefühl gilt nicht dem Zaun. Den hätten seine Vorgänger hinterlassen, «gut, dass er weg kommt», doch von den fünf Rehen, die er in diesem Wald regelmässig sieht, habe sich noch keines im Draht verfangen. Einmal, vor fünf Jahren, hat er anderswo ein Reh gefunden, das sich mit dem Kopf in einem Zaungeflecht buchstäblich erhängt hatte.
Trauriger Einzelfall eines Wildtiertods, wie er auch bei der Jagd passiere, wenn angeschossene Tiere entkommen. Das sagt Breitenmoser und ist damit auf der Linie des St.Galler Bauernverbands, der die Initiative gegen Stacheldraht und andere «Todesfallen für Wildtiere» ablehnt. Die Verbotsforderung der Jagd- und Naturschutzverbände (Pro Natura, WWF) sei eine «unnötige Einmischung» in die Arbeit der Landwirte, Älpler und Förster, meint Geschäftsführer Andreas Widmer: «Die restriktive Handhabung ist eine reine Schikane für die Tierhalter im ländlichen Raum.» Der Gossauer Landwirt formuliert es ähnlich:
«Es ist ein weiteres unnötiges Gesetz, das für uns nur Mehraufwand bringen würde.»
Die vor zwei Jahrzehnten noch gängigen Stacheldrähte auf den Wiesen sind grösstenteils verschwunden. In der Praxis würden keine neuen Stacheldrahtzäune mehr erstellt und die alten Zäune seit Jahren zurückgebaut, betont der Bauernverband. Stacheldraht ist auch für Breitenmoser kein Thema, den braucht er höchstens mal zum Schutz von jungen Bäumen vor Kühen.
Die 20 Kühe des Milchbauern müssen wegen der durchnässten Weiden noch tagelang im Stall auf dem Fennhof bleiben. Am Hang des Rain aber grasen seine Schafe, mitsamt Jungen gut 30 Stück. Selbstverständlich in einem eingezäunten Gebiet; gesichert mit Flexinetz unter Strom, wie es der Name sagt leicht und günstig, das Breitenmoser nach Bedarf aufstellen kann.
Im Gegensatz zum herkömmlichen Zaun mit Pfosten und gespannten Drähten, die man jahrelang stehen lassen kann, bedeutet dies allerdings mehr Arbeit. «Immer wieder neu aufstellen, das geht nicht von allein.» Nichts, dass sich die Bauern gern vorschreiben lassen, wie der Gossauer zu verstehen gibt. Die Weidenetze sind kein Problem, werden aber gemäss Initianten zu «besonderen Gefahrenquellen», wenn sie «funktionslos über Wochen und Monate herumstehen».
Analog zu anderen Kantonen sollen diese «heimtückischen Tierfallen» deshalb nach dem Abschluss des Weidegangs innert zwei Wochen entfernt werden. Diese Frist nehme Rücksicht auf arbeitsintensive Phasen der Landwirtschaft und sei verhältnismässig, meinen die Initianten und verweisen auf Appenzell-Ausserrhoden, das eine Beseitigungspflicht binnen acht Tagen vorschreibt. Breitenmoser kann der Initiative nichts abgewinnen:
«Es wird erneut auf uns Bauern herumgehackt, und das von Leuten, die nicht von der Landwirtschaft leben müssen. Die haben gut reden!»
Wie viele Berufskollegen ist er der Meinung, das Volksbegehren gegen die «Todesfallen für Wildtiere» sei aufgebauscht. Der Verband argumentiert mit Zahlen: Gemäss St.Galler Jagdstatistik 2018 wurden 2333 Stück Fallwild (ohne Vögel) registriert. Davon starben 24 Tiere (oder 1 Prozent), weil sie sich in Zäunen verfangen hatten. Dagegen fielen 1179 Tiere dem Strassenverkehr zum Opfer.
Was in der Initiative als «Verbot des in der Gesellschaft stark verpönten Stacheldrahts verkauft» werde, geht laut Bauernverband viel weiter: «Die Einführung einer gesetzlichen Regelung für den Umgang mit mobilen Weidenetzen und elektrischen Zäunen auf dem Offenland und in der landwirtschaftlichen Nutzfläche wie auch auf den Alpen ist ein Eingriff in die Arbeit unserer Bauern.» Zudem stehe die Forderung im Widerspruch zu den Auflagen, welche die Landwirte im Kampf gegen Wildschweine, Rotwild und Wolf hätten. «Damit die Kulturen vor Verwüstungen und die Haustiere vor ansteckenden Krankheiten der Wildtiere sowie vor Schäden geschützt werden können, sind genau die gleichen kritisierten Zäune nötig», so der Bauernverband. Die Jäger sollten sich besser um die «hohen Hirschbestände und stark zunehmende Wildschweinpopulation» kümmern.
Ungenutzte Zäune in Wäldern und Weiden zu entfernen, das begrüsst allerdings auch der Bauernverband und betont die seit 2018 laufenden Rückbauten im Kanton – 30 Aktionen in Zusammenarbeit mit Landwirten, Förstern, Jägern und Zivilschutz. Wie in Gossau werden in den nächsten Wochen allein im Toggenburg über 20 Kilometer Stacheldraht und andere Drahtgeflechte entfernt.
Ihre Eigeninitiative muss die Landwirtschaft noch verstärken, wenn sie eine Chance an der Urne haben will. Denn die Initiative bringt nicht nur die bislang verfeindeten Jäger und Schutzvereine (bis hin zu BirdLife) zusammen, sondern geniesst Sympathien in allen Parteien – so kam der erste Vorstoss von SVP-Kantonsrat Marcel Dietsche, eine jüngste Einladung für ein Referat Weigelts aber von SP-Kantonsrätin Andrea Schöb.
Medial hat das Anliegen weit über St.Gallen hinaus Aufsehen erregt, wie etwa ein wohlwollender Bericht in «La Liberté» zeigt. Und laut Weigelt haben verschiedene Kantone signalisiert, dass sie dem Beispiel St.Gallen folgen wollten. Im Interview mit dem «St.Galler Bauer» zeigt der Jägerpräsident Verständnis für die «negativen Reaktionen» auf Bauernseite. Doch habe man die «Ausgestaltung der Initiative bewusst moderat gehalten, was uns viele Bauern bestätigen». Tatsächlich hätten sich Bauern aktiv an der Sammlung beteiligt, sagt Weigelt. Dem hält Breitenmoser just die Ausscherer auf der anderen Seite entgegen:
«Ich kenne Jäger, die mit der Initiative nichts anfangen können.»
Die Sympathien der Gossauer Zivilschützer scheinen ebenfalls klar: «Das ist doch sinnvoll», sagt einer und erntet Kopfnicken in der Runde. Vielleicht lässt sich der eine oder andere noch von Breitenmosers Argumenten überzeugen – da hilft wohl auch, wenn er nach dem Regen mit dem Traktor noch die Seilwinde an den Waldrand fahren kann.
Das im Februar von Jäger- und Naturschutzverbänden lancierte Volksbegehren «Stopp Tierleid – gegen Zäune als Todesfallen für Wildtiere» kommt an die Urne. Die 6000 Unterschriften, die für eine Gesetzesinitiative im Kanton St.Gallen erforderlich sind, haben die Initianten längst erreicht und weit übertroffen. Das Ziel sind laut Jägerpräsident Peter Weigelt 10'000 Unterschriften: So viele habe man aktuell denn auch bereits gesammelt, doch seien diese von den Gemeinden noch nicht beglaubigt worden. Ungeachtet der erreichten Zielgrösse werde weiter gesammelt, da erfahrungsgemäss nicht alle Unterschriften gültig seien (Ausländer, Ausserkantonale, Doppelunterschriften usw.). Ende Juni soll die Initiative mit über 10'000 Unterschriften eingereicht werden. «Je mehr Unterschriften wir haben, desto nachhaltiger ist unser Volksbegehren»», sagt der frühere FDP-Nationalrat. Die breite Bevölkerung scheint das Anliegen mitzutragen: Laut Weigelt sind «die Reaktionen an der Front und auf der Strasse ausserordentlich positiv» und werde die Initiative «rasch verstanden und begrüsst».
Wann und in welcher Form die kantonale Initiative an die Urne kommt, lässt sich noch nicht sagen. Der Gesetzestext bleibt so festgeschrieben, doch die Regierung oder der Kantonsrat könnte einen direkten Gegenvorschlag formulieren. Dann läge es wiederum an den Initianten, ob sie Kompromisse und Änderungen in Kauf nehmen oder an ihrer strengeren Forderung festhalten möchten. (mel)