Sie ist die Retterin der Raupen

Erika Widmer sammelt seit über zehn Jahren Raupen in Tägerwiler Feldern und zieht diese dann zu Schmetterlingen heran. Die lässt sie manchmal an Hochzeiten und Beerdigungen fliegen. Ihr Wissen hat sie sich selbst angeeignet.

Gloria Karthan
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Die Tägerwilerin Erika Widmer zeigt in ihrem Garten die gesammelten Raupen des Schwalbenschwanzes. (Bild: Reto Martin)

Die Tägerwilerin Erika Widmer zeigt in ihrem Garten die gesammelten Raupen des Schwalbenschwanzes. (Bild: Reto Martin)

TÄGERWILEN. Erika Widmer holt ein kleines Notizbuch mit gesammelten Daten hervor und zählt Zahlen in einer Kolonne zusammen. «Über 310 Schmetterlinge habe ich im vergangenen Jahr fliegen lassen», sagt sie.

Auf die Frage, wie viele es dieses Jahr sein werden, antwortet sie: «Phu, da müsste ich selber da drin nachzählen.» Dabei zeigt sie auf zwei Holzkästen mit Plexiglasfront und luftdurchlässigen Seiten aus Drahtnetzen, die hinter ihr stehen. Darin befinden sich je ein Stiel Fenchelkraut und unzählige grünschwarze Rüebli-Raupen.

Zwei-Stunden-Suche im Feld

Die Räupchen sammelt Widmer seit zwölf Jahren auf Feldern, um sie dann zu Hause in Kästen vor dem Haus aufzuziehen. «Sonst würden die Armen bloss verhäxelt werden», sagt sie. «Ich kämme das ganze Feld durch, Reihe für Reihe. Das kann schon mal zwei Stunden dauern.»

Die gesammelten Insekten setzt sie zu Hause in ihre Kästchen und füttert sie täglich mit Rüebli- oder Fenchelkraut. Wenn sie genug gefressen haben, hängen sich ihre Haustiere an den Rand des Kastens und verpuppen sich. Je nach Wetter dauert es dann etwa zwei Wochen, bis die Schmetterlinge schlüpfen (siehe Kasten).

Velofahrt mit Schmetterlingen

Anfangs seien die Falter ganz zerdrückt. Sie benötigen etwa eine Stunde, bis ihre Flügel richtig durchblutet sind. Das macht sich Widmer zunutze: «Ich hänge die Kästen an mein Velo und fahre durch Tägerwilen, um den Menschen eine Freude zu machen. Im Dorf nennen mich schon alle <die Schmetterlingsfrau>.»

Sie sei auch schon an Hochzeiten oder Beerdigungen gefahren, um die Schmetterlinge vor den Gästen fliegen zu lassen. Die Leute an den Veranstaltungen kenne sie nicht, sie gehe einfach von sich aus hin. «Den Leuten schwirrt dann so viel im Kopf herum. Da haben sie nicht auch noch Zeit, um jemanden zu organisieren, der Schmetterlinge fliegen lässt.»

Wunder der Natur

Ihr Wissen über die Insekten habe sie sich selber angeeignet, ohne Bücher oder Internet. «Ich bin nicht der Computer-Typ. Ich weiss alles aus Erfahrung.» Jedes Jahr schreibt sie auf, wie viele Eier und Raupen sie sammelt, wie viele sich davon wann verpuppen und schlüpfen. Was sie nicht beobachtet, das weiss sie nicht mit Sicherheit.

Sie sehe die Metamorphose als Wunder der Natur. «Manchmal denke ich, wir sind alle auf eine Art und Weise verpuppte Schmetterlinge. Wenn wir es schaffen, aus unserer Puppe zu schlüpfen und auszubrechen, dann wären wir alle frei.»

Raupen und Hummeln

Für ihr Hobby und ihre Aktionen bekäme sie ausschliesslich positives Feedback. «Schliesslich setze ich mich für die Arterhaltung ein und versuche, die Tiere auf die Gärten umzusiedeln.» Deswegen pflanzen Nachbarn vermehrt Gewürzfenchel in ihren Garten. Die Schwalbenschwänze legen Eier darauf und Widmer muss nicht mehr bis ins Feld laufen, um Raupen zu suchen.

Auch ihre Familie unterstütze ihr Hobby, sagt Widmer. Ihr Sohn habe sie sogar darauf gebracht. Als Junge sammelte er mit dem Vater eines Freundes Raupen und züchtete sie zu Hause. «Und mein Mann findet es sowieso super. Unsere Hobbies passen perfekt zusammen.» Max Widmer hat nämlich hinterm Haus eine Hummelbox, für deren Eiablage.