«Die Stadt ist ein ausgedehntes Lernatelier»

Die Freie Stadtschule ist ein einziges grosses Lernatelier. Das Modell kann auf jede grössere Stadt multipliziert werden. Peter Fratton und Stefan Gander über autonomes Lernen, hohes Schulgeld und Akademiker, die das Leben nicht meistern.

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Schulleiter Stefan Gander (links) und Konzeptgeber Peter Fratton. (Bild: Christa Kamm-Sager)

Schulleiter Stefan Gander (links) und Konzeptgeber Peter Fratton. (Bild: Christa Kamm-Sager)

Herr Fratton, weshalb ist die Wahl für die erste Freie Stadtschule in der Schweiz gerade auf St. Gallen gefallen?

Peter Fratton: St. Gallen ist von der Grösse und von der Überschaubarkeit her der ideale Ort, um die erste Freie Stadtschule zu realisieren. Im Weiteren hat die Schulgründung einen Zusammenhang mit dem Neubau der Würth-Gruppe in Rorschach. Im Frühling 2013 nehmen verschiedene Würth-Firmen ihre Geschäftstätigkeit in Rorschach auf: Dort werden demnächst 250 Menschen arbeiten. Diese suchen Wohnungen, Häuser und Schulen für ihre Kinder. Rorschach ist jedoch zu wenig Stadt für eine Freie Stadtschule, St. Gallen ist nahe und Bettina Würth, die Mitaktionärin der Freien Stadtschulen AG, wohnt hier.

St. Gallen als grosses Schulzimmer – wie muss man sich das vorstellen?

Fratton: Die Stadt ist für die Stadtschule das, was der Wald für den Waldkindergarten ist. Ein Schulzimmer ist nicht immer ein sinnvoller Ort, um zu lernen. Wir lernen eine Sprache beispielsweise auch nur mit einem riesigen Aufwand in Einzellektionen. Im Land selber finden wir eine geeignete Umgebung, wo wir in der gleichen Zeit ungleich mehr lernen. Welches ist die richtige Umgebung zum Lernen? Eine gestaltete Umgebung mit vielen Impulsen motiviert. Die Stadt ist quasi ein ausgedehntes Lernatelier.

Wozu dient Ihr Schulgebäude, die ehemalige neuapostolische Kirche, hier am Rosenberg?

Fratton: Die Schule ist die Lernheimat, von hier gehen die Lernaktivitäten aus. Von hier werden die Aktivitäten geplant und diese stehen im Zusammenhang mit dem st. gallischen Lehrplan, den es zu erfüllen gilt. Hier im Lernatelier hat jedes Kind seinen eigenen Arbeitsplatz mit iPad.

Stefan Gander: Wir machen mit den Kindern hier die Zielvereinbarungen und dann planen die Jugendlichen gemeinsam mit dem Lernbegleiter oder Lehrer, wie und bis wann sie diese Ziele erreichen müssen. Sie nehmen Kontakt auf mit Firmen, mit Künstlern, mit Menschen im Berufsleben. Das Planen und Organisieren ist ein wichtiger Bestandteil, die neusten Medien helfen ihnen dabei. Dabei lernen sie ganz nebenbei auch Sozial- und Selbstkompetenz.

Sie werden bereits auf das Schuljahr 2012/13 starten. Haben Sie schon Kontakte in der Stadt geknüpft?

Gander: Ja, das haben wir. Museen sind ein gutes Lernumfeld, aber noch viel wichtiger sind Firmen und Orte, wo das richtige Leben stattfindet. Die Kinder werden aber auch selber Lernräume in der Stadt auffinden. Lernen soll im Grundsatz einfach nicht mehr etwas Abgeschottetes sein. Es geht ums Entdecken und Forschen, was in der Schule oft zu kurz kommt. Oder was man im Schulzimmer nur gekünstelt anbieten kann.

Werden die Kinder dabei von einer erwachsenen Person begleitet?

Fratton: Es ist nicht so, dass die Kinder einfach irgendwo in der Stadt herumlungern, das darf natürlich nicht sein. Deshalb sind diese Aktivitäten begleitet und betreut und ist die Schule auch relativ personalintensiv. Wir haben verschiedene Kompetenzgrade: Beginner, Advancer und Master of Learning. Je höher die Kinder eingestuft sind, desto selbständiger dürfen sie sich bewegen.

Gander: Die Kinder gehen mit klar definierten Zielen und der notwendigen Begleitung hinaus. Es gibt zu jedem Lernblock ausserhalb des Schulhauses eine Verarbeitungsphase im Lernatelier.

Wie viele Erwachsene werden an der Freien Stadtschule arbeiten?

Gander: Wir möchten langsam wachsen und begrenzen die Schülerzahl im ersten Jahr auf sechzehn Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur neunten Klasse. Vier Erwachsene begleiten die Kinder.

Fratton: Diese Lernbegleiter werden mit den Kindern den Besuch vorbereiten, sind beim Besuch an einem Lernort dabei oder lassen je nachdem die Jugendlichen auch zurück bei einer Person vor Ort, die sich für Fragen zur Verfügung stellt. Es bringt viel mehr, wenn Leute den Jugendlichen etwas erzählen, die fasziniert sind von dem, was sie tun. Wenn sie Freude haben an ihrem Beruf, haben sie ja so viel zu erzählen. Es ist eine ganz andere Art, den Bildungsplan zu erfüllen.

Das ist eine Schule, die sehr individuell auf das Kind eingehen will.

Fratton: Ja, und trotzdem gibt es viele gemeinsame Aktivitäten, auch um die sozialen Kompetenzen zu erreichen. Es muss ja das oberste Ziel guter Erziehung sein, dass ein Mensch handlungskompetent wird. Handlungskompetenz besteht nicht nur aus Fachkompetenz, sondern auch aus Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und Selbstkompetenz. Es gibt Leute, die haben erfolgreich studiert, aber getrauen sich beispielsweise nicht, Fragen zu stellen. Das ist etwas, das Bettina Würth in ihrer täglichen Arbeit oft aufgefallen ist.

Ist Ihre Schule in St. Gallen die erste von weiteren, die noch folgen sollen?

Fratton: Dieses Modell kann ohne Weiteres auf jede grössere Stadt multipliziert werden. Wir werden jetzt hier in St. Gallen starten und gehen schon davon aus, dass weitere Schulen folgen werden. Ähnlich den International Schools auf der ganzen Welt. So können Kinder auch in anderen Stadtschulen – vielleicht in einer französischen Stadt – ein Jahr absolvieren.

So eine Schule können sich allerdings nur gutverdienende Eltern für ihre Kinder leisten.

Fratton: Das ist so in der Schweiz. In Deutschland, wo die Würth-Gruppe zwei Privatschulen eröffnet hat, ist das Schulgeld kaum ein Thema. Der deutsche Staat zahlt in anerkannten Schulen bis zu neunzig Prozent des Schulgeldes. In der Schweiz können sich leider nur gut verdienende Eltern unsere Schule leisten.

Das ist aber ein grosser Nachteil.

Fratton: Ja, das ist ein grosser Wermutstropfen. Unsere Schule ist zudem personell und organisatorisch aufwendig. Wir würden gerne allen Kindern die gleichen Chancen bieten. In der Schweiz ist es jedoch undenkbar, dass Privatschulen gleichberechtigt sind wie die Staatsschulen.

Wie hoch ist das Schulgeld?

Gander: Das Schulgeld beträgt 25 000 Franken im Jahr, dafür können wir fünfzehn Prozent Stipendienplätze anbieten.

Interview: Christa Kamm-Sager