Stromgeschichte mit Spannung

Strom ist seit je mit Spannung verbunden. Nicht nur technisch, sondern auch politisch. Dies weiss niemand besser als Ueli Risch. Seit zwei Jahren ist er dabei, das Archiv der SAK aufzuarbeiten.

Josef Osterwalder
Drucken
Der Lanksee bei Appenzell auf einer zeitgenössischen Projektskizze. Zwischen 1914 und 1925 wurden vier Projekte für einen Sitterstausee unterhalb von Appenzell ausgearbeitet. (Bild: SAK-Archiv)

Der Lanksee bei Appenzell auf einer zeitgenössischen Projektskizze. Zwischen 1914 und 1925 wurden vier Projekte für einen Sitterstausee unterhalb von Appenzell ausgearbeitet. (Bild: SAK-Archiv)

Wäre es nach den Pionieren der St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke AG (SAK) gegangen, läge Appenzell heute am Südzipfel des Lanksees. Projektiert wurde er als Speichersee, dessen Wasser weiter unten im Tal die Stromturbinen antreiben sollte. In der Zwischenkriegszeit wusste man, wie kostbar die «Weisse Kohle» ist. Doch das Projekt Lanksee scheiterte am politischen Widerstand. Genauso wie Dutzende anderer Projekte für Kleinkraftwerke, die man an den Flüssen des St. Galler- und Appenzellerlandes errichten wollte: an der Murg, der Sitter, der Thur, dem Necker, dem Rhein, der Linth. Ein Projekt plante gar die Ableitung des Fälen- und Sämtisersee-Wassers auf Turbinen in Sennwald.

Auf diese Beispiele ist Ueli Risch gestossen, als er begann, das Archiv der SAK zu sichten, zu ordnen und aufzuarbeiten. Seit zwanzig Jahren befinden sich umfangreiche Akten aus den ersten Jahrzehnten des Unternehmens im Staatsarchiv. Doch solange sie bloss aufgestapelt in den Gestellen liegen, sind sie niemandem von Nutzen. Umso bedeutsamer, dass die SAK beschloss, die Aufarbeitung der Archivalien mitzufinanzieren – dies auch im Hinblick auf das 100-Jahr-Jubiläum, das die AG im Jahre 2014 feiert.

Ein Fall für Ueli Risch

Dass für diese Arbeit Ueli Risch gewonnen werden konnte, ist ein Glücksfall. Bis zu seiner Pensionierung gehörte der Elektroingenieur der Geschäftsleitung der SAK an, bringt also das notwendige technische Wissen mit, um die Bedeutung der Archivalien zu erkennen. Gleichzeitig ist er historisch interessiert, dass es ihm leicht fällt, sich in die Arbeitsweise eines Archivs hineinzudenken.

Wobei er mit dem Archiv der SAK ein Arbeitsfeld betreut, in dem Spannung herrscht, Hochspannung sogar. Denn in der Stromgeschichte zeigt sich, wie sehr um die Wasserkraft gekämpft wurde. Es ist eine Geschichte, in der wirtschaftliche und politische Interessen aufeinanderprallen, in der private Pioniere und staatliche Nutzniesser miteinander kämpfen und einander doch brauchen. Auf dem Strommarkt wird um Verträge gefeilscht, werden Monopole errichtet und durchlöchert, Leitungsnetze gebaut und politische Netzwerke geknüpft. Und immer wieder trifft man im SAK-Archiv auch auf Spitzenleistungen. So in den frühen 1930er-Jahren, als im Kubel eine gewaltige Dieselanlage zur Stromerzeugung installiert wurde – damals die grösste in Europa.

Kampfscheidung

In die gleiche Zeit fiel eine dramatische Kampfscheidung, als die Stimmbürger der Stadt St. Gallen beschlossen, die Bindung an die SAK aufzulösen und sich mit einer Hauptbeteiligung an den Sernf-Niederenbach Kraftwerken (SN Energie) auf eigene Faust mit Strom zu versorgen. Beim damaligen Abstimmungskampf herrschte auch zwischen Kanton und Stadt Hochspannung, mit der Folge, dass 90 Prozent der Stimmbürger an der Abstimmung teilnahmen, um mit einem wuchtigen Ja den Alleingang zu beschliessen. Ueli Risch könnte inzwischen tausendundeine Stromgeschichte erzählen: Wie die Gemeinden vom Strom profitierten, wie sie ihre Netze zurückkaufen wollten, wie man mit Bonifikationen die Leute bei der Stange hielt, wie sich SAK und Nordschweizerischen Kraftwerke (NOK) erst vor dem Richter trafen, dann aber ins gleiche Boot stiegen oder wie nach Standorten für neue Kraftwerke gesucht wurde, im Vorarlberg, im Tessin, im Aargau, in Graubünden. Zudem zeigen die Archivalien: Es waren risikofreudige Private, die zuerst an die Zukunft des Stroms geglaubt und mit ihrem Kapital die ersten Kraftwerke und Netzinfrastrukturen gebaut haben. So war auch das Kubelwerk mit ausländischem Kapital errichtet worden. All dies ist Vergangenheit, aber nicht nur. Die zahlreichen Studien für Kleinkraftwerke könnten bald wieder aktuell werden. Ein Motto der Archivarbeit heisst darum: Zurück zur Zukunft.

Vor dem nächsten Schritt

Dokument um Dokument hat Ueli Risch bereits gesichtet, numeriert, im Computer eingegeben und in Archivschachteln verpackt. Bis Herbst 2012 möchte er die Arbeit abgeschlossen haben. Das Produkt soll ein einwandfrei erschlossener und gesicherter Bestand mit internettauglichem Verzeichnis sein. Somit werden die Archivalien auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch das Ende ist auch ein Anfang. Mit der Erschliessung des Archivbestandes liegen erst die Bausteine bereit. Damit kann die sanktgallisch-appenzellische Stromgeschichte zusammengefügt werden. Eine Schrift, der es an Spannung nicht fehlen wird.

Kein See weit und breit: Heutige Sicht auf den geplanten Lankstausee. (Bild: Stefan Beusch)

Kein See weit und breit: Heutige Sicht auf den geplanten Lankstausee. (Bild: Stefan Beusch)