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Ostschweiz
St.Gallen, Gossau, Rorschach
In Rorschach betreiben die SBB eine von schweizweit zehn Zug-Waschanlagen. Lebensgefährliche Stromspannung, kuriose Fundgegenstände und andere menschliche Hinterlassenschaften sind hier an der Tagesordnung.
Ein Thurbo-Zug mit dem Namen «Sargans» rollt an, seine Bremsen quietschen. Für einmal hat er keine Fahrgäste an Bord. Eine Tür öffnet sich. Ivo Berlese nimmt einen grossen Schritt, um ins Innere des Zuges zu gelangen. Der Mann mit den silbernen, in Form gegelten Haaren ist Produktionsleiter im Bereich Cleaning und Rangier Ost bei den SBB. «Fährst du in die Waschanlage?», fragt er seinen Kollegen Stuart Arpagaus. Üblicherweise ist er in der Disposition tätig, heute aber wird er ein Fahrzeug auf Hochglanz bringen. Er nickt, und schon rollt der S-Bahn-Zug in die Reinigungsanlage, die eingeklemmt zwischen Fels und Gleis nördlich des Rorschacher Hauptbahnhofs liegt. Jeder Zugpassagier sieht sie im Vorbeifahren, doch keiner von ihnen scheint wirklich zu wissen, was sich in der schmalen Halle mit der braunen Fassade aus Eternit verbirgt.
Im Schritttempo rollt der Zug in die Waschanlage, die, wie Ivo Berlese sagt, schon einige Jahre auf dem Buckel hat: Ein «altes Teil» sei sie, und winzig, verglichen mit den neun weiteren Reinigungsanlagen, die die SBB schweizweit betreiben. 46 Millionen Franken investieren die Bundesbahnen bis ins Jahr 2023 in die Anlagen, die rund 3'600 Züge pro Jahr reinigen.
Stuart Arpagaus sitzt im Cockpit des Zuges, vor ihm leuchten Knöpfe in allen Farben. Er drückt auf den grünen Knopf auf seiner Fernbedienung, der die Waschanlage in Gang setzt. Die grossen, weissen Bürsten beginnen zu rotieren und schmiegen sich an die Flanken des verschmutzten Fahrzeugs, um dieses von Dreck zu befreien.
«Wir putzen nicht, wir reinigen», scherzt Ivo Berlese, während sein Kollege den Zug konzentriert durch den feinen Nebel aus Reinigungsmittel manövriert. Nach einigen Sekunden Einwirkzeit folgt eine Wasserdusche. Rinnsale bahnen sich ihren Weg die Fensterscheiben hinunter und spülen die Überreste des Putzmittels weg. Die Fahrt durch die Waschstrasse erinnert an eine Autowäsche: Mit dem feinen Unterschied, dass der Zug auf Schienen rollt und die Anlage nach dem Waschgang rückwärts verlässt. Das rollende Vehikel nähert sich dem Ende der Halle und kommt kurz vor dem Prellbock zu stehen.
Stuart Arpagaus erhebt sich vom Führerstand und verlässt den Zug – nun überquert er die verästelten Gleise des Rorschacher Bahnhofareals, um die Stromleitung über seinem Kopf auszuschalten und zu erden. Das ist nötig, bevor er mit Bürste und Schlauch die Frontreinigung des Zuges in Angriff nimmt – schliesslich pflegen Wasser und Strom kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Verzichtete Arpagaus auf diese Sicherheitsmassnahme, würden 15000 Volt durch seinen Körper rauschen, sobald er auf Tuchfühlung mit dem Rollmaterial ginge. Dies hätte mit höchster Wahrscheinlichkeit nur eine Folge: den qualvollen Tod.
Von Kopf bis Fuss leuchtend orange gekleidet, steht Stuart Arpagaus auf einer Arbeitsbühne und sprüht ein Reinigungsmittel auf die Front des Zuges. Daraufhin taucht er die gelbe Reinigungsbürste in den Eimer zu seiner Rechten. Währenddessen brausen einige Meter neben der Halle S-Bahn-Züge vorbei. Jetzt geht es selbst den hartnäckigsten Verschmutzungen an den Kragen: Er schrubbt sie penibel genau weg. Ist das erledigt, umgreift Arpagaus mit seinen Gummihandschuhen den Wasserschlauch. Mit diesem verpasst er der Front des Fahrzeugs eine zweite Dusche, um allfällige Rückstände zu entfernen. «Einen Föhn gibt es nicht. Den Part übernimmt die Bise», witzelt Arpagaus. Die Front strahlt weisser als ein gebleichter Zahn, selbst die kleinste Verschmutzung ist verschwunden.
Jedes Fahrzeug werde im Schnitt alle 10 bis 15 Tage gereinigt, erklärt Ivo Berlese. Abhängig davon, welche Art von Verschmutzung ein Fahrzeug aufweist, stehe das passende Reinigungsmittel zur Verfügung. «Im Sommer treten stärkere Verschmutzungen durch Insekten auf», sagt Berlese.
Jede Art von Innenreinigung habe eine eigenen, aus drei Ziffern bestehenden Code, sagt Ivo Berlese. Die sogenannte Unterhaltsreinigung, die nachts in Rorschach durchgeführt wird, trägt den Code 245. «Die ausführlicheren Reinigungen werden in der Unterhaltsanlage in Oberwinterthur vorgenommen. Dazu gehört etwa das Putzen der Fenster und die Reinigung der Sitzpolster», sagt Produktionsleiter Berlese. Wie genau ein Zug in Rorschach gereinigt werden kann, hänge aber auch davon ab, wann und wo er seinen nächsten Einsatz leistet. Auch die Entfernung von Graffiti und Schmierereien ist Spezialisten in Oberwinterthur vorbehalten.
In der SBB-Reinigungsanlage sind drei Mitarbeitende tätig. Einer davon kümmert sich tagsüber um die Hülle des Triebzuges, zwei weitere reinigen nachts das Innere der Fahrzeuge: Sie sammeln Zeitungen und Fundgegenstände ein, entsorgen Abfälle und füllen Verbrauchsmaterial auf. Die Liste der Objekte, die liegen gelassen werden, ist lang und nicht selten kurios. Neben ganzen Rucksäcken mit Notebook, Handy und Portemonnaie habe man auch schon scheinbar herrenlose Fahrräder gefunden.
Um ganz andere menschliche Hinterlassenschaften kümmert sich Stuart Arpagaus als Nächstes. Er steuert die Mitte des Zuges an. Zwischen dem Wagen und dem Antriebsmodul versteckt sich ein mit «WC» beschrifteter Auslass. Er greift zum grünen Plastikschlauch und steckt ihn in die Öffnung. «Die Leerung des Fäkalientanks dauert zwischen fünf und zehn Minuten, je nach Füllstand», sagt Arpagaus. Sie finde im Schnitt alle fünf bis acht Tage statt, fügt Ivo Berlese an.
Aushilfe Arpagaus nähert sich einem weissen Kästchen, dessen fundamentale Bedeutung sich erst bei genauerem Betrachten offenbart. Eine Etikette mit dem Hinweis «Fäkalienpumpe» klebt darauf. Einige Zentimeter darunter warten zwei Knöpfe darauf, nacheinander betätigt zu werden.
Die Pumpe brummt, und langsam schleichen die Hinterlassenschaften der Passagiere durch den dicken, halbtransparenten Schlauch, bevor dieser in der grauen Betonwand verschwindet. Als der Fäkalientank leer ist, trennt Arpagaus das eine Ende des Schlauches vom Wagen. Den Schlauch taucht er in ein Wasserfass, um auch ihn von übel riechenden Rückständen zu befreien. Mit einem Knopfdruck lässt er die Pumpe verstummen. Daraufhin greift er nach einem gelben Schlauch, der dazu dient, das sogenannte Brauchwasser, also Wasser für die Spülung und das Lavabo im Zug, aufzufüllen.
Die Schaltzentrale der Anlage, in der täglich sieben bis acht Züge gewaschen werden, ist überraschend klein: «Prinzipiell gibt es zwei Knöpfe: einen zum Ein- und einen zum Ausschalten der Anlage», schildert Ivo Berlese. Grünes Licht dominiert das Hirn der Reinigungsanlage, ein gutes Zeichen. Alle Systeme laufen planmässig.
Die Tür zum Nebenraum ist mit einem auffälligen Warnhinweis versehen: «Achtung Lauge». Ein grosser Tank steht da wie ein Monolith – beides Relikte aus vergangenen Zeiten, als eine sogenannte Spaltanlage das stark verschmutzte Wasser reinigte. Berlese deutet auf den Schachtdeckel, der zwischen Unkraut und Bahnschotter liegt:
«Mittlerweile sind die genutzten Reinigungsmittel biologisch abbaubar und können direkt in die Kanalisation geleitet werden.»
Es sei der Anspruch der SBB, möglichst umweltschonende Putzlösungen zu verwenden. Stuart Arpagaus wagt sich erneut ins sogenannte Gleisfeld, um die Erdung mit einer quietschgelben Eisenstange aufzuheben. Er legt einen klobigen Hebel um, der Strom fliesst wieder. Erst jetzt kann er das frisch gewaschene Fahrzeug aus der Waschanlage chauffieren. Auf einem Nebengleis wartet der Thurbo-Zug darauf, auf die Strecke zurückzukehren – im Dienste von Ausflüglern, Pendlern und Touristen in der Ostschweiz.