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Das Wiborada-Projekt startet zum dritten Mal, um an St.Gallens vergessene Heilige zu erinnern. Ab Freitag lassen sich Freiwillige in der Wiborada-Zelle bei der Kirche St.Mangen einschliessen. Die St.Galler Künstlerin Lika Nüssli wird am 2. Mai, dem Wiborada-Gedenktag, mit einer Performance mitten in der Stadt Wiborada verehren. Ihr geht es nicht um Religion, sondern um Solidarität.
Gallus, Otmar, Vadian - St.Gallens Geschichtsschreibung stützt sich auf Männer. Die Frauen gingen, wie Wiborada, vergessen. Dabei war sie es, die den Klosterschatz rettete, ohne sie gäbe es die heute weltberühmte Stiftsbibliothek nicht. Wiborada wieder ins Bewusstsein zu rufen, das setzte sich eine Gruppe um Theologin Hildegard Aepli 2021 zum Ziel und rief das Wiborada-Projekt ins Leben.
Am Freitag geht es ins dritte Jahr, zum dritten Mal lassen sich Freiwillige für jeweils eine Woche in der nachgebauten Zelle der Heiligen an der Kirche St.Mangen einschliessen. Wiborada lebte dort von 916 an als Inklusin, bis zu ihrem gewaltsamen Tod 926. Wiborada war Ratgeberin für alle, die an ihrem Fenster Hilfe suchten.
Das kann man ab Freitag bei den Freiwilligen Wiborados (dieses Jahr leben fünf Männer je eine Woche als Inkluse) auch wieder, sie öffnen jeden Tag das Zellenfenster am Mittag und am Abend für eine Stunde. Sie sprechen mit allen, denen danach ist. Oder hören einfach zu.
Auf Menschen zugehen wird auch die St.Galler Künstlerin Lika Nüssli. Sie wird am 2. Mai, dem Gedenktag der heiligen Wiborada, mit einer Performance in der Innenstadt an die Vergessene erinnern. Und an das vergessene Grab. Nüssli wird nächsten Dienstag das Grab an verschiedenen Plätzen performativ nachstellen. Warum?
Nüssli, mehrfach preisgekrönte Künstlerin, zuletzt für ihre Graphic Novel «Starkes Ding» mit dem Schweizer Literaturpreis 2023 und mit dem Preis Schönste Schweizer Bücher ausgezeichnet, will auf Wiborada aufmerksam machen. «Ich kannte Wiborada», sagt sie, «aber die Wichtigkeit dieser Frauenfigur war mir nicht bewusst.» Sie sei darüber erschrocken, dass sie, eigentlich offen für feministische Themen, nicht wusste, wie bedeutend Wiborada für die Stadt war. Und auch erschrocken, dass Wiborada nicht im kollektivem Bewusstsein der Stadt verankert ist.
Wiboradas Grab bei der Kirche St.Mangen war jahrhundertelang eine Pilgerstätte. In der Reformation wurde das Gedenken an sie ausgelöscht. Heute weiss niemand mehr, wo Wiboradas Gebeine begraben sind.
Am Dienstag wird Lika Nüssli ab 12 Uhr in der Stadt an sieben Orten Wiborada verehren lassen. Die Künstlerin wird ein schlichtes weisses Kleid tragen, eine Mischung aus Totenhemd und Nonnengewand. Für ihre Performance «I Adore You» hat Nüssli sieben Plätze ausgesucht: Orte, die von Männern geprägt wurden wie Bangor am Fusse der Mülenenschlucht, Vadian-Denkmal, Klosterwiese oder das frühere Prostituiertenviertel Engelgasse, oder einfach an belebten Orten wie Multergasse oder Kornhausplatz. Dort wird sie Passantinnen und Passanten bitten, sie mit hellrosa Wasserfarbe zu beschütten.
Hellrosa? Sie habe die Farbe intuitiv gewählt, sagt Nüssli. Doch es passt: Rosa stehe für Anerkennung und Wertschätzung und helles Rosa für Anmut, Freude und Dankbarkeit.
Mit Farbe überschüttet wird Nüssli sich auf den Boden legen, Zeichen für die verloren gegangene Grabstätte und die verlorene Erinnerung. Ob das nicht auch provozierend wirken könnte? Das sei nicht ihre Intention, sagt Nüssli. Ihr geht es um die Verehrung dieser besonderen Frauenfigur. Nicht im religiösen, sondern im spirituellen und auch im feministischen Sinn. Ihre Performance werde eine hingebungsvolle, zarte Aktion. Mit Interaktion, Nüssli wird die Passantinnen und Passanten einbeziehen.
Zum Abschluss wird Nüssli am achten Ort, der Kirche St. Mangen, um 19 Uhr ein «Ritual der Liebe» performen. Genaueres möchte sie nicht verraten, nur so viel: Sie will damit die Solidarität stärken. Solidarität mit einer vergessenen Frau, die für die Stadt Grosses geleistet hat.
Infos zu Lika Nüsslis Performance sowie zum Wiborada-Projekt unter wiborada2023.ch