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Die Stadtredaktion des «St.Galler Tagblatt» hat in einer losen Serie verschiedene Aspekte des Veloverkehrs in der Stadt ausgelotet. Im Leitartikel, der die Reihe abschliesst, begrüsst Stadtredaktor Reto Voneschen die Velo-Initiative, die die SP für 2020 angekündigt hat. Für ihn gilt dabei: Lieber spät als nie.
Es gibt Punkte, über die sich in einer Diskussion zur Rolle des Velos in St.Gallen ein Streit erübrigt.
Beim letzten Punkt werden viele automatisch nicken. Selbstverständlich beurteilen wir unsere Mitmenschen nicht nach der Wahl ihres Verkehrsmittels... Wie ein (auch selbst-)kritischer Blick zeigt, ist diese Zustimmung mit Vorsicht zu geniessen: Unbewusst werden auf unseren Strassen tagtäglich Urteile über andere Verkehrsteilnehmer gefällt und so Vorurteile gehätschelt.
Das führt zu einem Klima, das es schwer macht, eine sachbezogene Verkehrspolitik zu betreiben. Diskussionen über den Verkehr werden hierzulande immer zu Glaubenskämpfen. Fundamentalismus ist Trumpf, Kompromisse sind für Weicheier. Wenn jemand ein Verkehrsmittel fördern will, löst das automatisch Abwehrreflexe bei denen aus, die mit einem anderen Gefährt unterwegs sind.
Für eine konstruktive städtische Verkehrspolitik braucht es aber keine Bretter vor dem Kopf, sondern Offenheit und Bereitschaft unvoreingenommen an offene Fragen heranzugehen. Es bleiben auch so noch genügend Themen, über die man sich in guten Treuen und je nach Weltanschauung fetzen kann.
Aber muss St.Gallen überhaupt Velopolitik betreiben und zur Velostadt werden? Die Voraussetzungen sind aufgrund der Hügel und des oft nasskalten Wetters nicht ideal. Nur schon deswegen wird St.Gallen nie zur Velostadt wie Kopenhagen oder Amsterdam, wo täglich Zehntausende auf zwei Rädern unterwegs sind.
Das Velo – insbesondere in der Version als E-Bike – könnte aber auch bei uns bei der Lösung von Verkehrsproblemen nützliche Dienste leisten. Eine griffige Velopolitik mit der Förderung des Umsteigens von vier auf zwei Räder bei kurzen Strecken würde helfen, Engpässe zu entschärfen. Was nicht zuletzt im Interesse jener sein müsste, die aufs Auto wirklich angewiesen sind.
Für Umsteigeeffekte muss weder das städtische Strassennetz auf den Kopf gestellt noch die Veloinfrastruktur vergoldet werden. Ein Sofortprogramm mit einem Paket gezielter, meist einfacher Eingriffe an heiklen Stellen gekoppelt mit Werbeaktionen fürs Velo (unter anderem an Schulen) und mit einem Investitionsprogramm für einzelne grössere Ausbauvorhaben müsste reichen, um messbare Wirkung zu erzielen.
Ausbauten müssten systematisch auf Basis einer Auslegeordnung oder Schwächenanalyse erfolgen. Grundsätzlich sollten Massnahmen vom Zentrum her in Richtung Aussenquartiere in Angriff genommen werden - also dort ihren Anfang nehmen, wo die Frequenzen am grössten sind, am meisten Velofahrerinnen und Velofahrer profitieren. Und es braucht eine ständige Erfolgskontrolle, die zeigt, was wo tatsächlich noch fehlt.
Tatsächlich wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten bei der Veloinfrastruktur einiges gemacht. Es gehört aber zum Ungenügen der städtischen Velopolitik, dass an einigen Stellen frühere Verbesserungen wieder aufgehoben wurden. So war die einheitliche Tempo-30-Zone in der Vadianstrasse wichtiger als der konsequente Vortritt für Velofahrer auf der Veloroute zwischen dem Westen und dem Stadtzentrum.
Und an der gleichen Veloroute wollen die Planer im Güterbahnhof bei der Verlegung der Gleise der Appenzeller Bahnen nun auch noch eine Bahnschranke installieren. Der Schluss daraus: Sogar auf der Veloroute haben in der Stadt St.Gallen andere Verkehrsteilnehmer und Ziele gegenüber dem Velo Priorität. Und das läuft einer gezielten Veloförderung entgegen. Wo gegenläufige Interessen aufeinander stossen, müssen Alternativen her (etwa an der Bahnschranke im Güterbahnhof).
In St.Gallen sind heute im Schnitt 5'000 Velos pro Tag unterwegs. Rund vier Prozent der zurückgelegten Strecken werden pedalend auf zwei Rädern absolviert. Beide Zahlen sind im Vergleich zu anderen grossen Städten der Schweiz sehr tief. Luzern und Zürich, die ebenfalls am Ende der Liste rangieren, werden zwölf Prozent der Strecken per Velo zurückgelegt.
Beim tiefen St.Galler Wert sind die Anti-Velo-Aspekte Hügel und Wetter sicher spürbar, aber auch die Tatsache, dass der Veloverkehr in der Gallusstadt jahrelang in verkehrspolitischen Überlegungen vernachlässigt worden ist. Man hat den Eindruck, dass das Velo in gewissen Kreisen bis heute nicht ernst genommen wird. Es gilt vielen immer noch als Freizeitgerät und nicht als Verkehrsmittel.
Spürbar ist dies auch bei der städtischen Bauverwaltung: Es ist zwar nachvollziehbar, dass bei ihr der Strassenbau erste Priorität hat. So wird eine Sanierung und Fahrbahnumgestaltung nach der anderen aufgegleist. Und schwer erträgliche Perfektion ist immer noch auszumachen, wenn’s um Randsteinkosmetik an Quartierstrassen geht.
Ausbauten für den Langsamverkehr, so der subjektive Eindruck, kommen erheblich langsamer voran, Ausbauten fürs Velo sind sogar oft im Schneckentempo unterwegs – wie die Velopasserellen an der St.Leonhard-Brücke und beim Bahnhof Bruggen oder der Velotunnel zwischen Reithalle und Lokremise.
Dass dem so ist, hängt allenfalls damit zusammen, dass das Velo innerhalb der Stadtverwaltung keinen Interessenvertreter hat. Die Stadt hat es immer abgelehnt, einen Velobeauftragten einzusetzen. Einzige Ausnahme war, als es darum ging, die vom Volk angenommene Velo-Initiative der 1990er-Jahre umzusetzen. Dafür wurde vorübergehend und in Teilzeit ein Velobeauftragter eingestellt.
Die SP hat angekündigt, im Wahljahr 2020 eine Neuauflage der Velo-Initiative zu lancieren. Schaden kann’s nicht, wenn Parlament, Stadtrat und Verwaltung vermehrt und speditiver fürs Velo tätig werden müssen. Die Initiative ist überfällig. Dass man links der Mitte und der Velolobby aufs Wahljahr warten musste, um Druck aufzubauen, ist aber auch bezeichnend für den Zustand unserer Velopolitik. In dem Fall muss es aber unter Velofahrerinnen und Velofahrern wohl heissen: Lieber spät, als gar nicht.