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Nicht alle Jugendlichen haben das Glück, Weihnachten im Kreis ihrer Familie zu feiern. Einige verbringen die Festtage im Schlupfhuus. Obwohl die jungen Bewohner ihr Zuhause vermissen, sind sie sich einig: Für sie ist es besser so.
Noch einmal schlafen, dann ist Weihnachten. Es ist Sonntagabend, draussen ist es dunkel, der Regen peitscht ungemütlich gegen die Fensterscheiben. Milana und Sandy stehen in der Küche. Aus einem Handy erklingt Musik. Die beiden schneiden Käse in Scheiben. Es gibt Raclette. Sie plaudern und lachen. Morgen ist Weihnachten.
Anders als die meisten Kinder und Jugendliche verbringen Milana und Sandy das Fest der Liebe aber nicht bei ihren Familien. Die beiden 15-Jährigen wohnen im Schlupfhuus, einer Notunterkunft für Kinder und Jugendliche (siehe Kasten). Hierher kommen jene, die aus verschiedensten Gründen weg von ihren Familien müssen.
Das Schlupfhuus ist eine Notunterkunft für Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren und ein Teil des Kinderschutzzentrums St.Gallen, das zur Stiftung Ostschweizer Kinderspital gehört. Kinder und Jugendliche erhalten im Schlupfhuus seit 17 Jahren Schutz und Sicherheit. Das Angebot gilt für junge Menschen in akuten Krisen, die Opfer von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt geworden sind. Ein Team von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen kümmert sich um die Bewohner. Rund zwei Drittel sind Mädchen. Das Haus hat Platz für acht Kinder; es kann aber kurzfristig vorkommen, dass es mehr sind. (woo)
Milana wohnt seit zwei Monaten im Schlupfhuus. Zuhause konnte sie nicht mehr bleiben. Sie wurde innerhalb ihrer Familie sexuell missbraucht. Wie die anderen Bewohner möchte auch Milana unerkannt bleiben. Ihre Namen wurden deswegen geändert. Milana selbst redet nicht darüber, wieso sie hier ist. Wie lange sie noch im Schlupfhuus bleibt, ist unklar. Klar ist aber, dass sie fremdplatziert wird, also in ein Heim oder zu einer Pflegefamilie kommt.
Sandy kam vor zwei Wochen. Das Schlupfhuus ist ihr vertraut. Sie war schon einmal hier. Seit Jahren eskalieren Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, in der Schule wird sie gemobbt. Wie Milana spricht auch Sandy nicht gerne darüber. «Familienprobleme», antwortet sie knapp.
Die beiden Mädchen teilen sich ein Zimmer im oberen Stock. Es ist wie alle Zimmer schlicht eingerichtet. Zwei Betten, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank. Rosa. In den Betten sitzen Kuscheltiere. Es sei schön, jemanden im gleichen Alter bei sich zu haben, sagt Sandy. Während sie redet, spielen ihre Finger mit den langen, schwarzen Haaren. Bevor eine der beiden spricht, sucht die eine immer den Augenkontakt der anderen. Für beide ist es das erste Weihnachten, das sie nicht daheim feiern. «Es ist zwar etwas Neues, aber ich freue mich trotzdem», sagt Milana. Sandy nickt:
«Ich merke irgendwie gar nicht, dass ich nicht zu Hause bin. Hier fühlt es sich auch danach an.»
Sie sitzen am Holztisch im Wohnzimmer. Von den Wänden hängt glitzernder Weihnachtsschmuck. Auf dem Tisch steht ein Teller mit frisch gebackenen Weihnachtsguetzli. Vor ein paar Tagen haben die Bewohnerinnen und Bewohner den Christbaum geschmückt. Gelb, lila und grün leuchten die Kugeln um die Wette. Wie die blauen Fische, die wenige Meter entfernt ihre Runden im Aquarium schwimmen. Unter dem Baum liegen Geschenke. «Ich glaube nicht, dass die für uns sind», flüstert Sandy zu Milana. Noch wissen sie nicht, was sich unter dem Geschenkpapier versteckt: Parfums, Einkaufsgutscheine und ein Teddybär für ihre Kollegin Alyssa. Sie hat sich etwas zum Umarmen gewünscht. Jemand, der ihr Wärme und Geborgenheit gibt.
«So schön hatten wir es schon lange nicht mehr», sagt Therese Boxler und begutachtet die Weihnachtsdekoration. Die Sozialpädagogin arbeitet seit 15 Jahren im Schlupfhuus. Sie liebt Weihnachten und freut sich, dass es für alle Geschenke gibt. Möglich machen dies Spenden, die ab und zu auch Wochenendausflüge finanzieren. Den Kindern wolle man trotz ihrer Situation ein schönes Fest bereiten. Gerade in der Weihnachtszeit sei es für manche schwieriger als sonst. «Viele vermissen ihre Familien und wollen über die Festtage heim.»
Für einige geht dieser Wunsch in Erfüllung. Wenn Kind und Eltern zusammen feiern wollen, versucht das Schlupfhuus-Team dies zu ermöglichen. Nach gemeinsamen Sitzungen wird entschieden, ob es geht oder nicht. Dieses Jahr verbringen vier Bewohner Weihnachten zu Hause. Obwohl auch sie gerne daheim wären, sind sich Milana und Sandy einig. «Ich denke, es ist gut für uns, dass wir hier sind», sagt Sandy. «Obwohl ich auch traurig bin, bin ich froh, nicht zu Hause zu sein.» Dort, wo man ihr wehtun könnte. Kontakt zur Mutter will sie keinen.
Das Schlupfhuus ist für die beiden mehr als nur ein Unterschlupf. Hier fühlen sie sich wohl. «Alle sind sehr nett. Man hat immer jemanden zum Reden.» Hier vergesse sie ihre Sorgen, sagt Milana. Und sie lerne, selbstständiger zu werden. Es gibt einen Ämtliplan. Wäschewaschen, Aufräumen, Kochen. «Zuhause musste ich nie etwas machen. Es hilft aber, erwachsen zu werden.»
Das Schlupfhuus sei für viele der letzte Ort, an dem sie sich wohlfühlen können, sagt Therese Boxler.
«Wir wollen Ruhe in das Leben der Kinder bringen. Sie sollen durchatmen können.»
Ziel des Hauses ist ein möglichst familiennaher Betrieb. Gerade Kleinigkeiten wie der gemeinsame Znacht sind für viele aber fremd.
Ein Tag später. Heiligabend. Im Schlupfhuus ist es ruhig. Milana, Sandy und Alyssa sind unterwegs. Auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzt eine Frau mit einem Baby auf dem Schoss. Sie ist von der Freiwilligengruppe Idem (Im Dienste eines Mitmenschen) und kümmert sich für ein paar Stunden um das sechs Monate alte Baby. Das Schlupfhuus-Team hat es vor sechs Wochen aufgenommen. Die Mutter war wegen psychischer Probleme nicht fähig, sich um ihre kleine Tochter zu kümmern. Wenn alles klappt, hat sie im Januar bei einer Pflegefamilie ein neues Zuhause. Ein verspätetes Weihnachtsgeschenk.
Säuglinge gehören eigentlich nicht zur Hauptzielgruppe, sagt Roger Scherrer. Er leitet das Schlupfhuus seit 2014. Das Haus spricht hauptsächlich 6- bis 18-Jährige an. «Es kommt aber regelmässig vor, dass auch Babys und Kleinkinder bei uns wohnen.» Rund 20 der 80 Fälle pro Jahr seien Babys Kleinkinder.
In seinen vier Jahren als Leiter hat Roger Scherrer schon einiges erlebt. Kinder, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, tobende Eltern vor der Türe oder ein Vater, der seine zwei Söhne vor zwei Jahren aus dem Garten des Schlupfhuuses entführte. «Das sind die unschönen Dinge», sagt Scherrer. «Aber es gibt auch viel Schönes.» Vor allem dann, wenn ein Kind nach seinem Aufenthalt an einen geeigneten Ort kommt. Sei es zurück zur Familie oder an einen neuen Platz. Rund die Hälfte der Kinder kehrt nach ihrem Aufenthalt zurück zur Familie, die andere Hälfte wird fremdplatziert.
Milana, Sandy und Alyssa sind inzwischen nach Hause gekommen und so gleich wieder in ihren Zimmern verschwunden. Sie schminken sich für den Abend. Jedes Jahr dürfen die Kinder, die über Weihnachten bleiben, wünschen, was sie unternehmen wollen. «Das ist immer unterschiedlich. Aber unter dem Baum sitzen und singen will kaum jemand», sagt Scherrer. Diesen Heiligabend geht es ins Restaurant Stars and Stripes. Die Mädchen verbringen den Abend mit Sozialpädagogin Nuria Gheza, die Nachtdienst hat. Auswärts essen ist im Schlupfhuus etwas Besonderes. Für solche speziellen Momente helfen die Spenden als Zustupf.
Finanziert wird der Betrieb durch Kanton und Gemeinden. Den Aufenthalt eines Kindes, der zwischen wenigen Tagen und maximal drei Monaten dauert, bezahlt zu einem Drittel der Kanton. Für zwei Drittel kommt die Gemeinde des Kindes auf. Die finanziellen Mittel sind eher knapp. Das Haus müsste erneuert werden. Es ist alt, die Badezimmer teils sanierungsbedürftig. Bunte Zeichnungen und ein Plakat mit den Kinderrechten verdecken die vergilbten Wände.
In diesen Tagen füllt sich das Schlupfhuus wieder. Dann kehren die anderen Bewohner zurück. Und gleich folgt die nächste Besonderheit für die Schlupfhuus-Kinder. Anlässlich eines Geburtstags dürfen sie im Säntispark baden gehen. «Ich freue mich schon riesig», sagt Milana. Sie strahlt. Und vergisst für einen Moment ihre Sorgen.