Im Rahmen der Ausstellung über Zwangsversorgungen von «Arbeitsscheuen» und «Liederlichen» im Toggenburger Museum referierte Historikerin Sybille Knecht vor Publikum über die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts.
LICHTENSTEIG. Wie in anderen Kantonen der Schweiz war es den Gemeindebehörden auch im Kanton St. Gallen bis in die jüngere Vergangenheit möglich, Gemeindemitglieder administrativ zwangszuversorgen. Die Betroffenen mussten sich dabei nicht einmal eines Delikts schuldig gemacht haben. Zeitweise genügte für die Einweisung in eine «Arbeitsanstalt» die amtsseitig verfügte Etikettierung «arbeitsscheu», «liederliche Lebensführung» oder ähnliches.
Für das Toggenburg war die Destination im betreffenden Zeitraum dann ab 1872 die Zwangsarbeitsanstalt Bitzi in Mosnang. Die thematische Schau im Toggenburger Museum zeigt an ausgewählten eindrücklichen Materialien und Originalen aus den Archiven das Ausmass von Missbrauch und Willkür, auch Fälle von Gewalt gegen Insassen. Sie ist noch bis Ende Juni zu sehen.
Die wissenschaftliche Arbeit von Sybille Knecht, Historikerin aus Winterthur und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der vom Bund eingesetzten eidgenössischen Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen, lässt keine Zweifel offen: Hier wurde teilweise Menschen Unrecht zugefügt, und es besteht Handlungsbedarf für deren Rehabilitierung, allenfalls auch für Wiedergutmachung.
Die Autorin verfasste ihre Studie im Auftrag des Staatsarchivs St. Gallen. Die von ihr bearbeiteten Akten sprechen eine deutliche Sprache. In der Geschichte der «Bitzi» sind auch mehrere Fälle von massiven Prügelstrafen belegt. Das Anstaltsreglement stellte diese 1932 explizit unter Verbot. Mehrfach Flüchtigen wurde früher im Wiederholungsfall der «Totz», ein schwerer Holzklotz, ans Bein geheftet, oder sie bekamen ein Halseisen. Das erste kantonale Versorgungsgesetz von 1872 sollte die öffentliche Ordnung sichern und richtete sich gegen arbeitsscheuen und «liederlichen» Lebenswandel. Eine vorgängige Verwarnung des Betroffenen war ebenso wenig obligatorisch wie seine Anhörung. Eine gerichtliche Anfechtung der Massnahme war vom Gesetz her nicht vorgesehen. Ab 1891 konnten nach ähnlichem Verfahren auch Alkoholiker zwangsversorgt werden. Ab 1924 war es möglich, administrativ Versorgte auch zusammen mit gerichtlich verurteilten Verbrechern in einer Strafanstalt zu internieren.
Die Nesslauer Bürgerin Anna Maria Boxler ist aufgrund des von ihrem Enkel Heinz Looser minutiös recherchierten und inzwischen als Buch dokumentierten Falles die inzwischen bekannteste ehemalige Insassin der Zwangsarbeitsanstalt Bitzi. Das in der Ausstellung einzusehende Insassenverzeichnis hält als Grund fest: «unsittlicher Lebenswandel».
Einzelheiten und der Nachweis, dass und in welcher Form Anna Maria Boxler Unrecht widerfahren ist, ist dem Buch «Zwischen Sehnsucht und Schande – Die Geschichte der Anna Maria Boxler 1884–1965» zu entnehmen. Die entscheidende Wende kam erst in den 70er-Jahren mit der Abschaffung der administrativen Versorgung im Kanton St. Gallen.
Sybille Knechts Forschungsbericht ist kostenlos zu beziehen bei www.staatsarchiv.sg.ch. Öffnungszeiten des Museums: samstags und sonntags von 13 bis 17 Uhr. Lisbeth Herger und Heinz Looser lesen am 11. Juni um 16 Uhr im Rathaus Lichtensteig aus ihrem Buch über den Fall Anna Maria Boxler.